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EURATOM IN DER EU-VERFASSUNG: RÜCKSCHLAG FÜR DIE DEMOKRATIE Brisanz erkannt, Brisanz verkannt

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben gestern den Entwurf der ersten europäischen Verfassung als Verhandlungsgrundlage für den Gipfel von Thessaloniki akzeptiert. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hatte keine wesentlichen Änderungswünsche. Für den deutschen Atomausstieg lässt das Schlimmstes befürchten.

Der Grund ist der Annex Euratom: Dem Verfassungsentwurf ist ein Protokoll zur Änderung des Atomvertrages angefügt. In dessen Präambel wird die Kernenergie als eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt bezeichnet. Anstatt die Präambel zu ändern, soll sie Teil der europäischen Verfassung werden.

Der Konvent war angetreten, der Staatengemeinschaft mehr Demokratie und Transparenz zu geben. Es gibt keinen EU-Vertrag, der undemokratischer als der Euratom-Vertrag ist: Das Parlament hat kaum Zugriffsmöglichkeiten, der Vertrag ist weder befristet noch sieht er eine Evaluierung vor. Zudem spiegelt Euratom nicht die europäische Realität wider: Sechs von fünfzehn Mitgliedsstaaten haben nie Atomstrom produziert, vier haben den Ausstieg beschlossen. Was soll angesichts dessen ein Vertrag, der der Kernenergie eine Sonderstellung einräumt?

Zudem: Als im Zuge der Energiemarktliberalisierung eine Stromrichtlinie verabschiedet wurde, wurden die atomrelevanten Themen ausgeklammer: Sie seien in einem neuen Euratom-Vertrag zu regeln. Jetzt ist der neue Euratom-Vertrag der alte. Geregelt wurde nichts.

Dass es der unselige Vertrag überhaupt zum Annex gebracht hat, verdankt er den beiden Lagern im Konvent. Die einen haben Euratom nicht problematisiert, weil sie dessen Brisanz nicht erkannten. Die anderen haben Euratom nicht problematisiert, weil sie seine Brisanz kennen. Zu Letzteren gehört Konventspräsident Giscard d’Estaing. Der Atomfan ließ seinerzeit als Regierungschef Frankreichs über 40 Atomreaktoren bauen. Zu Ersteren gehört Joschka Fischer. Denn dass sich Deutschland weiterhin an den Kosten für die atomare Forschung beteiligen muss, kann nicht im Sinne der ausstiegswilligen Grünen sein. NICK REIMER