ESSAYS: Plädoyer für die Rettung des Sozialen
Marx wollte die Kategorien der Natur durch die der Gesellschaft ersetzen. Heute verläuft die Bewegung in umgekehrte Richtung: Die Auseinandersetzung über politische und soziale Systeme ist der Debatte um Ökologie, Religion, Nationalismus sowie um individuelle und kulturelle Identität gewichen. Ist dies tatsächlich der Beweis für den Beginn der „post-sozialen“ Ära? Auch weiterhin ist es notwendig, Machtinteressen und Mechanismen zu benennen, die das natürliche Gleichgewicht bedrohen. ■ VON ALAIN TOURANE
Lange haben wir Gesellschaft in ihren eigenen, also in sozialen Begriffen gefaßt. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir eine Familie als Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder Mann und Frau beschrieben haben. Wir haben von der sozialen Pyramide gesprochen, von Klassenbeziehungen, Arbeitsorganisation, von Stadt und Land, Reichen und Armen, von Regierenden und Regierten. Und wir haben uns begeistert für die Republik, die Demokratie, den Sozialismus, den Wohlfahrtsstaat, die Modernisierung oder die Integration der unterentwickelten Regionen, allesamt Dinge, die sich in sozialen Begriffen fassen lassen.
Doch nun sind all diese Wörter und Ideen innerhalb weniger Jahre nahezu vom Erdboden verschwunden. Wovon wird heute geredet? Von Ökologie, Verschmutzung und Hunger, von Religion, Nationalismen und Identität, oder aber von Technologie, Finanzkonzentration und dem Weltmarkt. All diese Themen sind natürlich voneinander sehr verschieden, aber sie haben etwas gemein: Kein einziges ist ein soziales Thema, kein einziges bestimmt eine soziale Kategorie in bezug auf andere innerhalb eines sozialen Systems. Das soziale Gewebe ist zerrissen: Auf der einen Seite sind die planetaren, eher natürlichen als gesellschaftlichen Realitäten. Auf der anderen die weitaus mehr kulturell als gesellschaftlich bestimmten Identitäten, die sich mehr durch ein Wesen, ein Sein definieren als durch Beziehungen und eine relative Stellung. Auf der einen Seite die Welt, auf der anderen das Ich, zwischen beiden – nichts.
Und um zwischen beiden klar zu unterscheiden und das soziale Nichts zu betonen, das sie trennt, haben wir eine Auffassung von Demokratie übernommen, die Sir Isaiah Berlin zurecht die negative Freiheit nennt. Sie besteht in der Fähigkeit, jedweden daran zu hindern, sich gegen den Willen der Mehrheit an der Macht zu halten. Mit anderen Worten: Wir erwarten von einer demokratischen Macht nicht mehr, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu errichten, sondern nur noch, daß sie unsere Freiheiten respektiert und uns ansonsten gefälligst in Ruhe läßt. Nach zwei Jahrhunderten voller sozialer und politischer Entwürfe sind wir wieder zur Menschenrechtserklärung von 1791 zurückgekehrt, ja zur Bill of Rights von 1689. Der Big Bang, dem wir beiwohnen durften, hat die Gesellschaft explodieren lassen: Der Markt, das politische System, die kulturellen Identitäten und die Umwelt sind Galaxien, die sich mit hoher Geschwindigkeit voneinander entfernen.
Die Explosion der Idee von Gesellschaft berührt nicht allein die abgehobene Sphäre der Sozialwissenschaften; als Krise der nationalen Identität ist sie für jeden erfahrbar. Eine Krise, die mit besonderer Intensität in Europa erlebt wird, wo sie entstanden ist. Gerade die Länder mit der längsten und stärksten nationalstaatlichen Tradition erfahren die Krise des Nationalstaats am schmerzhaftesten. So ist heute nicht nur die Idee der Gesellschaft in Auflösung begriffen, sondern auch ihr konkretester Ausdruck, die Idee des Nationalen, ist in großen Teilen reaktionär geworden und deswegen nicht in der Lage, realem Verhalten Orientierung zu geben.
Wir müssen also zunächst diese wachsende Trennung der Welt-Probleme von den Ich-Problemen verstehen, bevor wir die wichtigere und schwierigere Frage stellen: Handelt es sich um eine vorübergehende Krise, die zur Neuzeichnung eines Bildes von Gesellschaft führen wird, oder sind wir im Gegenteil unwiderruflich in die Ära des Post-Sozialen eingetreten, ein Begriff, der noch radikaler wäre als der von der Post-Moderne?
Zunächst überrascht uns ein Vorgang, den man in der Sprache der Ökonomen als Externalisierung sozialer Probleme bezeichnen kann. Wir haben von der Arbeiterklasse gesprochen, von Werktätigen und ihrer Ausbeutung; heute sprechen wir von Randgruppen, Ausgeschlossenen und Minderheiten. Wir unterscheiden zwischen denen, die „up“, und denen, die „down“ sind, zwischen denen „in“ und denen „out“. Unser Vokabular ist heute dem von 1850 ebenso nahe, wie es dem von 1930 oder 1960 entfernt liegt. Die Philanthropen und Gesellschaftskritiker zu Beginn der englischen oder französischen Industrialisierung sprachen von poverty, von Elendsquartieren, Alkoholismus, Tuberkulose oder vom Proletariat, also von Desozialisierung. In England beklagten Carlisle und Ruskin die Zerstörung des green country durch das black country – sehr ökologische Begriffe.
An ihrem Ende findet die Industriegesellschaft die Sprache der beginnenden industriellen Revolution wieder. Zwischen dem Ende des 19. und dem zweiten Drittel des 20.Jahrhunderts bildete die Industriegesellschaft einen unüberschreitbaren Horizont für das Denken. Marx kämpfte dafür, die Kategorien der Natur oder der Ökonomie durch soziale Kategorien zu ersetzen, durch die Analyse der „gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse“. Heute ist die Bewegung genau entgegengesetzt: Gesellschaftliche Kategorien transformieren sich in natürliche.
Diese Umkehrung geschieht in zwei Phasen. Zunächst werden aus eigentlich sozialen Kategorien geschichtliche Wesenheiten, Nationen, ethnische Gruppen und sogar Rassen. Das spektakulärste Beispiel sind die Arbeitsimmigranten. Vor fünfzehn Jahren sprach man von eingewanderten Arbeitnehmern, von „Gastarbeitern“. Heute ist die Rede von Mohammedanern oder besser: von Menschen, die aus dem islamischen Gebiet rings ums Mittelmeer stammen. Die Soziologen unterscheiden zwischen ascription, der Gesamtheit der durch Geburt erhaltenen sozialen Zugehörigkeiten, und achievement, also der Stellung, die ein Individuum durch sein Handeln im Laufe seines Lebens erlangt. Uns wurde beigebracht, daß die Modernität sich danach bestimmt, in welchem Maß achievement an die Stelle von ascription tritt. Der moderne Mensch ist das, was er aus sich macht, und nicht das, was er ist. Und jetzt beobachten wir eine massive Rückkehr der ascription. Wir sprechen mehr von ethnischen Problemen als von Klassenproblemen, mehr von Kulturunterschieden als von ökonomischen Interessen.
In einem zweiten Schritt führt diese Umkehrung dazu, daß den natürlichen Kategorien par excellence, etwa dem Geschlecht, eine zentrale Stellung zugeschrieben wird. Die Linken, die in den siebziger Jahren davon sprachen, die Frau sei auf doppelte Weise Proletarierin, verschlossen vor dem Offensichtlichen die Augen: Das Geschlecht ist eben nicht nur ein soziales Faktum. Und es bedurfte all der Energie der radikalen Feministinnen, um Simone de Beauvoirs Behauptung zurückzuweisen (“Ein Mensch wird nicht als Frau geboren, sondern wird es erst“), einschließlich der Forderung nach Aufhebung des Geschlechterunterschieds als ihrer logischen Folge. Ein Hyperliberalismus, der immer mehr mit dem Bewußtsein einer weiblichen Identität kontrastierte und der Bedeutung des gender (Geschlecht) in der Persönlichkeitsentwicklung. In den zentralen Konflikten der wirtschaftlich am entwickeltsten und politisch am freiesten Gesellschaften stehen sich heute nicht mehr soziale Kategorien gegenüber. Sondern Identitäten, die sich nicht sozial, dafür aber in natürlichen oder kulturellen Begriffen definieren lassen, stehen in Opposition zu einem System, seinen Maschinen und Apparaten und seiner unpersönlichen Logik.
Diese Transformation ist vor allem eine Antwort auf den Anstieg des Totalitarismus. Das prägende Ereignis für die Frankfurter Schule war Unfähigkeit der organisierten sozialen Akteure, den „unwiderstehlichen Aufstieg des Arturo Ui“ zu verhindern, den Triumph des Nazismus. Die Generation Michel Foucaults wurde geprägt von dem Bruch mit dem Kommunismus. Nun ist die Figur des Deportierten, des Dissidenten eine andere als die des Arbeiters, des Technikers oder auch des Intellektuellen; es ist die Figur eines ent-menschten Individuums, das nur widerstehen kann, weil es von einem Glauben getragen wird, religiös oder nicht, und weil es zu einer ethnischen, nationalen oder auch politischen Gemeinschaft gehört. Daher die Rückkehr der Religionen, die immer natürlichen oder historischen Gemeinschaften zugeordnet werden, nicht aber Gesellschaften. Aber von dorther rührt auch das genaue Gegenteil der religiösen Gemeinschaft, der moralische Individualismus, der Appell des Individuums an die Menschenrechte unabhängig von jeder Zugehörigkeit. Viele sind der Auffassung, man müßte sich zwischen einem laizistischen Individualismus und einer religiösen Gemeinschaftlichkeit entscheiden. Und in der Tat ist es nicht schwer, diese Opposition zu finden, wobei der eine Pol oft den Westen symbolisiert und der andere den Osten, wie in der Rushdie-Affäre, die uns in die Zeiten Voltaires zurückversetzt hat. Aber dennoch ist der gemeinschaftliche oder religiöse Gedanke dem Individualismus ebenso oft inhärent wie entgegengesetzt. Gerade in unseren Ländern, wo die Idee des Naturrechts christliche Wurzeln hat, wo die protestantischen Kirchen ebenso auf dem Glauben wie auf dem individuellen Gewissen und einer starken Gemeinde beruhen. Noch heute wird der Freiheitsdrang und der Kampf gegen die Diktaturen, ob in Lateinamerika, Polen oder noch kürzlich in der DDR, von religiösen Menschen oder Gruppen angeführt.
So bildet sich eine Welt, die reich ist an Kräften und Widersprüchen und der die wichtigsten Akteure der Gegenwart entstammen. Ob Menschenrechtsbewegung oder gemeinschaftlicher oder religiöser Fundamentalismus, allen ist gemein, daß sie sich nicht nach sozialen Begriffen bestimmen, sondern natürlich, kulturell und ethisch. Diese Bewegungen kämpfen gegen totalisierende Systeme, ob es sich um totalitäre politische Herrschaft handelt, um religiösen Fundamentalismus, um den Imperialismus der Wirtschaftsgroßmächte oder um die Vermarktung allen gesellschaftlichen Handelns.
Aber jede Verteidigung des Besonderen gegen das Allgemeine, der Tradition gegen die Moderne ist schwach und gerät in Gefahr, in einem perspektivlosen Widerstand gegen Veränderung zu verharren. Deswegen berufen sich Religionen gegen ihre sozialen Gegner auf das Sein, auf ein welteinheitliches Prinzip. Nicht anders berufen sich der moralische Individualismus und die für liberale Gesellschaften charakteristischen Bewegungen auf die Natur. Sie beschuldigen das Wirtschafts-, Sozial und politische System, entgegen der Natur zu handeln und derart ein weitaus umfassenders Ganzes als die Gesellschaft, nämlich die Menschheit in Gefahr zu bringen, ja das Ökosystem, in das menschliches Leben eingebettet ist. Der Ökologismus, aber auch die Anziehungskraft dessen, was ungenau „östliche Religionen“ genannt wird, ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Appellinstanz, die oberhalb der Gesellschaft liegt und diese beurteilen kann. Der Mensch darf nicht mehr danach streben, die Natur zu beherrschen, wie es ihm Descartes vorgeschrieben hat. Er ist verantwortlich für den Erhalt der Gleichgewichte, die durch sein eigenes Handeln bedroht sind. Man sieht leicht, wie – jenseits alles Sozialen – dieses Sichberufen auf die Natur mit der Berufung auf die persönliche und kollektive Identität in eins geht, eine Identität, die dem sozialen und politischen Druck nur widerstehen kann, indem sie sich auf eine Natur und ein historisch Erreichtes beruft.
Damit ist genug gesagt, um sich der entscheidenden Frage zuzuwenden: Handelt es sich bei diesem Riß, dieser Zerstörung des Sozialen zwischen Identität und Gemeinschaft auf der einen Seite, und dem Universellen, Natürlichen auf der anderen, um eine vorübergehende Erscheinung, die folglich als Krise verstanden werden muß, oder haben wir es mit einer dauerhaften Erscheinung zu tun, die am Anfang einer post-sozialen Ära steht? Könnte man etwa mit Serge Moscovici sagen, daß die Natürliche die Soziale Frage abgelöst hat? Kann man annehmen, daß die grünen Parteien, gegründet auf ökologischen Ideen, die sozialistischen Parteien endgültig ersetzen werden, die einst gegründet wurden zum Schutz einer sozialen Kategorie, der Arbeiterklasse? Niemand kann die Richtigkeit der einen oder der anderen Hypothese beweisen. Aber jeder muß Stellung nehmen und ist durch seine Entscheidung intellektuell besser zu situieren als durch traditionelle und politischere Entscheidungen, etwa zwischen rechts und links. Ich meinesteils möchte erklären, warum ich an eine Rekomposition des Sozialen glaube und mich jenen Thesen sehr entfernt fühle, die ich selbst post-soziale genannt habe.
Um meine Antwort vorzubereiten, habe ich das gegenwärtige Denken mit den zu Beginn der Industrialisierung gängigen Ideen verglichen. Muß man sich nicht, wenn man sich von der extremen Institutionalisierung der Probleme einer zu Ende gehenden Gesellschaft freimachen will, von allen gesellschaftlichen Schemata lösen, wie es die Romantiker und Philanthropen zu Beginn des Industriezeitalters taten? Damals war der Gegensatz zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Tories und Wigs, nur einer zwischen zwei Lagern der gleichen oligarchen Bourgeoisie. Auch heute müssen wir zunächst aus politischen Mustern heraustreten, die einen Großteil ihrer Aussagekraft verloren haben. Um so mehr, als die systemexternen Modelle, wie der Kommunismus oder die Dritte-Welt-Bewegung (“Tiers-mondismus“) unter großem Knall zusammengebrochen sind. Was manchen, wie Fukuyama, auf den illusionären Gedanken brachte, die Geschichte sei zu Ende, wie es Hegel vorausgesagt hatte, und das alleinmögliche Modell von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie habe triumphiert. Die Erschöpfung und Perversion nicht-westlicher Modelle zwingen die westliche Gesellschaft, ihre Probleme und ihre Dynamik in gänzlich anderen Begriffen neu zu fassen, als sie von den heute am Boden liegenden nicht- westlichen Regimen verwendet wurden. Wie kann man von Kommunismus sprechen angesichts dessen, was sich in Berlin abspielt? Und umgekehrt: Wie kann man sich in Berlin, Prag oder Warschau darauf beschränken, den Kommunismus zu denunzieren, wenn man Khomeini und Gaddafi gesehen und gehört hat? In dem Moment, wo die westliche Gesellschaft die Rückwirkungen des tiers-mondistischen und kommunistischen Bruchs spürt, faßt sie ihre Probleme in Begriffen eines globalen Bruchs. Hat nicht Herbert Marcuse, aus der Frankfurter Schule stammend, im sehr liberalen Kalifornien die amerikanische Gesellschaft und ihre Toleranz als Manipulationsmaschinerie beschrieben, und wurde nicht Michel Foucault Beifall geklatscht, als er unsere Gesellschaft als Überwachungs- und Bestrafungsapparat anprangerte?
Aber schon jetzt läßt sich ziemlich deutlich ein Wandel erkennen, eine Resozialisierung der Forderungen. Ich will versuchen, kurz eine doppelte zentripetale Bewegung zu skizzieren, die jener zentrifugalen Bewegung entgegenläuft, durch die das Soziale zersetzt und zerrissen wurde.
Am sichtbarsten ist die „Resozialisierung“ der Verteidigung von Identität. Wir leben in einer Welt der großen Kulturorganisationen und –industrien. Gerade in sehr konkreten Lebensbereichen wie Krankenhaus, Schule, Fernsehen drückt sich die Verteidigung von Identität am stärksten aus. Wer bin ich noch als Kranker in einem Hospital? Bin ich Herr über mein Leben, meinen Körper, oder bin ich der unpersönlichen Logik der medizinischen Technik unterworfen? Wenn die Schule, auf allen ihren Ebenen, mehr und mehr auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts und der Industrie ausgerichtet ist, was wird aus der Sorge um Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung der Kinder? Und das Fernsehen erzeugt zwar ein Gefühl von Nähe und Mitleid mit Menschen, die bisher unsichtbar waren, macht aber sogleich ein Spektakel daraus, wenn nicht sogar eine Ware. In den zentralen Erfahrungsbereichen unserer Gesellschaft, im Gesundheitssektor, der Erziehung und den Massenmedien prallen also Verhaltensweisen und Gebrauchsweisen von Technik aufeinander, die im eigentlichen Sinne sozial sind und keineswegs außerhalb der Gesellschaft liegen. Man kann sich in einer individuellen oder kollektiven Identität einschließen, aber es ist nicht möglich, auf Dauer die wichtigsten sozialen Probleme außer acht zu lassen, auf die die Öffentlichkeit bereits heftig reagiert, eben weil es um die Auswirkungen neuer Kulturindustrien auf Persönlichkeit und Kultur geht.
Auf der anderen Seite: Was ist die Verteidigung der Natur anderes als der Kampf gegen gewisse Aspekte eines Wirtschaftssystems, das durch die Interessen der Produzenten und Konsumenten vorangetrieben wird? Wir können nicht länger diesen double talk weiterführen, wo die Verschmutzer, also wir alle, am lautesten gegen Verschmutzung anschreien und dann die Bewohner der Dritten Welt bitten, ihre eigenen Entwicklungsprojekte zu bremsen, damit unsere eigenen Konsum-, Verschwendungs- und Verschmutzungsmöglichkeiten nicht beeinträchtigt werden. Was gestern noch als kulturelle Affirmation oder Verteidigung der Umwelt erschien, kann schnell in Egoismus und Intoleranz umkippen, wenn man es nicht raschestmöglich in eine Kritik der sozialen und politischen Beziehungen umwandelt. Natürlich soll eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe auf ihrer Identität beharren – aber unter der Bedingung, daß diese Affirmation nicht nur die Ideologie einer absoluten Macht ist, die ihrem eigenen Volk Willkür und Krieg auferlegt. Selbstverständlich soll man sich um Erhalt und Wiederherstellung der natürlichen Gleichgewichte sorgen – sofern man die Hauptanstrengung nicht den ärmsten Völkern abverlangt. Diese Verkehrungen von fordernden Bewegungen werden und wurden nur vermieden, indem man die sozialen Probleme sucht, die hinter den natürlichen oder kulturellen liegen. Die Kategorien, Interessen und Mechanismen müssen beim Namen genannt werden, die das natürliche Gleichgewicht und die persönlichen und kollektiven Identitäten bedrohen.
Wir befinden uns auf halbem Weg zwischen zwei Gesellschaften. Wir sind schon halb heraus aus der Industriegesellschaft und erst an der Schwelle zu einer postindustriellen Gesellschaft, die von den Kulturindustrien dominiert wird. Weil es uns an dieser Schwelle an klaren sozialen Wegmarken mangelt, sprechen wir von Ethik und Biologie, von Kultur und Individualität. Das ist leichter, als von Gesellschaft und Politik zu reden. Aber hüten wir uns davor, daß unsere Ideen nicht hinter die Wirklichkeit zurückfallen, die uns umgibt. Die Liquidierung des Sozialen entsprach dem Ende der Siebziger; seitdem aber ist die Krise einem neuen Wachstum gewichen, sehr rasch sind neue Probleme aufgetaucht, inklusive erster Institutionen, mit ihnen umzugehen. Es ist nicht mehr die Zeit für vage Empfindungen und die Flucht vor den sozialen Problemen ins Außergesellschaftliche. Umgekehrt wäre es verhängnisvoll zu glauben, daß die neuen gesellschaftlichen Akteure den alten ähnelten, wie es der Irrtum der Linken der siebziger Jahre war. Die waren der Auffassung, daß die neuen Probleme nur traditionelle Klassenkämpfe in neuen Gewändern wären. Natürlich sind heute die Probleme der persönlichen und kollektiven Identität und jene der Natur am wichtigsten. Aber gerade weil sich Produktions- und Machtsysteme gebildet haben, die viel stärker als bisher Identitäten infrage stellen. Wenn das alte Feld des Sozialen und Politischen zerstört scheint, dann auch, weil an seine Stelle ein erweitertes Feld getreten ist, in das wir persönlicher und kollektiver verwickelt sind als vorher. Der öffentliche Raum war der des Citoyen, später der – bereits erweiterte – des Arbeiters. Heute umfaßt er zusätzlich das Individuum und seine Identität, die Menschheit als Gattung und sogar die Natur, das System, in dem alles menschliche Handeln sich abspielt.
Alain Touraine Ist Forschungsdirektor an der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS).
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