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ESSAYWas soll aus Europa werden?

■ Laut Jiri Dienstbier brauchen die Menschen in Europa Mut zur Weisheit

Als ich vor sieben Jahren begann, ein Buch über unseren Kontinent zu schreiben, nannte ich es — auch ein wenig ironisch — Träumen von Europa. Es könnte scheinen, daß der Wunsch der Vater des Gedankens war und es um eine Utopie ging. Ich war kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden und arbeitete als Heizer. Das ermöglichte mir, bei der Beaufsichtigung der Heizkessel zu lesen und zu schreiben. Es handelte sich nicht um ein Kafkasches Dampfschiff mit „Heizer“ aus dem gleichnammigen Kapitel des berühmten Romans Amerika, über das sich die Literaturkrtitiker den Kopf zerbrechen. Keine Angst, ich werde Ihnen nicht noch eine Interpretation des Werks vorlegen.

Ich sage nur: Von dort war die Sicht klarer als vom damaligen Außenministerium aus. Und ich habe damals selbstverständlich nicht geahnt, daß ich einmal unmittelbar vom Heizungskeller aus dort antreten werde. Die Welt ist also nicht auf Dauer zwischen Heizer und Passagieren aufgeteilt. Für Europa gilt das dreifach.

In meinen damaligen Träumen spielte das geteilte Deutschland eine wichtige Rolle. Ich war der Meinung, daß die Geschichte nicht abgeschlossen ist. Der Gedanke, es sei in offener Geschichte möglich, bestimmte Gebiete, Nationen oder überhaupt die Zeit abgeschlossen zu halten, erschien mir als ganz gewönnlicher Unsinn. In dem selben Jahr, eben vor sieben Jahren, träumten die Vertreter des tschechoslowakischen Dissens im Prager Aufruf und riefen auch das übrige Europa zum Träumen auf. Sie behaupteten, daß die bisherigen Tabus unseres Raumes nicht aufrechtzuerhalten seien. Als eines dieser Tabus bezeichneten wir die Vereinigung Deutschlands und wir erklärten, daß seine in Frieden erreichte Einheit „eines der bedeutendsten Instrumente zur positiven Veränderung in Europa sein wird“.

Es scheint also, daß Träumen manchmal ein sehr realistisches Unterfangen ist.

Nun ja, es gibt ein Träumen, das Akt und Aktualität ist, eine potenzierte Wahrnehmung der Gegenwart, die die Zukunft ermöglicht. Es geht aus von der natürlichen Welt und ihren Beziehungen, doch beabsichtigt es nicht, sie zunächst zu zerstören, um dann eine andere und bessere aufbauen zu können, sondern errät ihr Wachsen und will Nährboden für ein solches Wachsen sein. Es ist bereit, sich selbst zu opfern, opfert aber nicht die anderen.

Ich glaube nicht, daß wir ohne das Träumen von Realisten auskommen, ohne das eigene Opfer, ohne Werteskala, deren Breite sich durch folgende Meilensteine kennzeichnen ließe: die gepflückte Frucht vom Baum der Erkenntnis, die griechische Polis, das Kreuz, die Deklaration der Menschenrechte, also das Prinzip der persönlichen Freiheit und der Verantwortung für die eigenen Taten und für den Zustand der Gemeinde. Auch deswegen werden wir uns mit einer radikalen Kritik der Begriffe befassen müssen, innerhalb derer es uns unglücklicherweise im vergangenen Jahrhundert gefallen hat und die sich, insbesondere in Ländern wie dem meinen, ähnlich wie Insekten unter einem plötzlich weggewälzten Stein in Bewegung gesetzt haben, um neue Dunkelheit in den Herzen der Menschen zu suchen. Ich denke hier an Begriffe eines entgleisten Europäertums, an Pseudomaximen und Pseudoimperative, die mit Wörtern wie Volk, Nation, Partei, Heimat, Rasse, Blut und Boden zusammenhängen und die, gewandelt zu dem entsprechenden Ismus, unseren Kontinent zerstört haben und die nicht überwunden sind.

Die Kraft der Fatalität nämlich, jene Teufelskraft, beruht auf unserer Schwäche, auf unserem schließlich geschwächten Willen, die Freiheit zu wollen, den anderen verstehen zu wollen. Sie besteht in der Korrumpierbarkeit jeder menschlichen Tat oder jedes Gedankens, besteht in der menschlichen Fähigkeit, alles Menschliche auch gegen den Menschen zu wenden. Alles, was uns in den kommenden zwei oder drei Jahren gelingen wird, wird hauptsächlich an unserer Fähigkeit liegen, nicht zu wiederholen, was wir als schlecht erkannt haben. Das ist eine große Gelegenheit für jeden von uns persönlich, aber es ist auch eine Gelegenheit für die Nationen. Und eine Gelegenheit für Europa. So kommen wir vielleicht endlich zu Taten und Aktionen, die, um mich auf einen deutschen Gedanken zu stützen, der auch weiterhin fruchtbar ist, jede für sich selbst eine allgemeine sittliche Norm zur Geltung bringen könnte. Anstand zwischen Staaten ist dem Anstand zwischen Menschen ähnlich. Zu diesem Anstand ist jedoch häufig Mut nötig. Europa wird also mutige Europäer brauchen. Mut ist die Tochter der Weisheit und jenes Traums, oder wenn sie so wollen, der Utopie, die auf der Achtung vor den wirklichen Dingen und Menschen gegründet sind. Mut, der das Böse nicht abstumpft oder das, wogegen er sich richtet. Mut, nicht von Gewohnheiten des Hasses befreit, ist kein Mut. So wie die Wahrheit keine Fahne ist. Und schon überhaupt keine Vereinsstandarte. Und Recht ist nichts anderes als ein Mittel der Gerechtigkeit.

Derjenige, der das frisch vereinigte Deutschland — vereinigt im wesentlichen Maße durch den Willen und die Taten so vieler Nichtdeutscher — als jenen dunklen Kafkaschen Türwächter hinstellen wollte, der mit den großen Schlüsseln vor dem Tor des Gesetzes klirrt, ist nicht nur ein schlechter Psychologe, sondern ihm fehlt das Wichtigste: der Sinn für das Seiende, für die Wahrheit der tatsächlichen Dinge. Er sieht nicht, daß hinter seinem Rücken noch kein fertiges Haus oder fertiger Dom aufragt. Wenn wir uns also inmitten einer Baustelle befinden, und wenn wir uns hier gemeinsam befinden, ob uns das gefällt oder nicht, dann sollten wir nicht vergessen, daß — praktisch gesprochen — die Multilateralität Europas und seine multikulturelle Konstruktion sich aus vielen Bilateralitäten zusammensetzt, und daß es daher für den Bau gut, wenn nicht gar lebenswichtig ist, die Phasen der Verbindungsmöglichkeiten der Elemente nicht zu überspringen und sich vor Lösungen über die Köpfe anderer hinweg zu hüten.

So wie der Weg in die Europäische Gemeinschaft wesentlich über Sie, die Deutschen, führt, so führt über uns der Weg, auf dem die am schwersten betroffenen Europäer, die Völker der heutigen Sowjetunion, europäische Infrastrukturen erhalten können. Es ist dies, wie mir scheint, auch der einzig gangbare Weg, auf dem man diesen heute sehr unberechenbaren Koloß unseres Kontinents einmal als Partner oder Freund wird heranführen können.

Welchen Platz in dieser gegenseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit jeder von uns einnimmt, hängt von dem Maß ab, in dem es uns gelingt, die Werte der zivilen Gesellschaft zu verwirklichen. Ob wir überhaupt diese Vielfalt in der Einheit verwirklichen, hängt natürlich auch davon ab, wie schnell und wirksam wir ein Konzept der gemeinsamen Sicherheit finden, das den Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa erleichtert und von jedem nur möglichen Wiederaufleben des Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts abschreckt. Die organisatorischen Grundlagen des Europäertums, die es schon gibt und die eine der schwersten geschichtlichen Prüfungen bestanden haben, müssen entwickelt werden: das konzeptionelle Fundament wie der Helsinki- Prozeß oder die Charta von Paris, das institutionelle Fundament wie die Europäische Gemeinschaft oder der Europarat. Unter Sicherheit verstehen wir hier die ganze Skala, ökonomisch-ökologisch, militärisch, aber auch juristisch.

Die Nato und die Westeuropäische Union werden sich zwar verändern, aber ein wirkliches europäisches Konzept können wir uns nicht vorstellen ohne die USA und Kanada als integralen Bestandteil der europäischen Axiologie, als Bestandteil, der einst die europäische Axiologie bewahrt hat, als unsere Väter und Großväter sich aufmachten zu traurigen Abenteuern.

Mich hat früher einmal ein Gedicht von Hofmannsthal beeindruckt, das mich an meine Erfahrung als Heizer erinnerte. „Manche freilich müssen drunten sterben...“ beginnt es. In ihm wird von dem getrennten und doch untrennbaren Schicksal der Menschen gesprochen — derer unter Deck und derer auf Deck. Ich habe an diesem Gedicht eher seinen historischen Charakter wahrgenommen. Seine Trauer. Der Autor schrieb es mit der Vorahnung des Zerfalls einer mächtigen und beinahe föderativen Staatengemeinschaft, welche, eigentlich vorherbestimmt zu großer Blüte, alle ihre guten Augenblicke versäumt hat. Man nannte sie „Europa im kleinen“, unsere Vorfahren waren darin lange zufrieden — ohne das je völlig zu merken. Die Krankheit, an der sie starb, hieß: Mangel an Mut, weise zu sein.

Niemand heute würde uns verzeihen, dies zu wissen und nicht danach zu handeln. Jiri Dienstbier

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