ESSAY: Exil ohne Unterschlupf
■ Keiner will das ungeliebte Symbol Erich Honecker haben
Drei Konstanten durchziehen die Lebensläufe aller jener revolutionärer Internationalisten, deren kleine Welt einst so nachhaltig auf die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einwirkte: Die unvermeidliche Hafterfahrung, die dauerhafte Furcht vor dem Exil und die brennende, selten erfüllte Hoffnung auf die Macht. Lenin, in seiner Ankunft am Finnischen Bahnhof von Petrograd in einem versiegelten Zug, stand dafür Modell.
Einige wenige schafften es bis ganz oben; die große Mehrheit rieb sich zwischen Haft und Exil auf, ohne Ende und ohne Sicherheit. Das Argusauge der Geschichte hat Häftlingen wie Gramsci oder Exilanten wie Trotzki zumeist einen besseren Platz zugewiesen als denjenigen, die wie Lenin und Stalin auf dem Regiesessel des Revolutionstheaters landeten.
Heute zerfällt der Kommunismus weltweit, und da geht es um mehr als den guten Ruf. Viele einstmalige Kommunisten in Osteuropa haben ihren Frieden mit den neuen Regierungen geschlossen — sie geben jetzt Zeitungen heraus, wandeln sich chamäleongleich zu millionenschweren Unternehmern oder verharren sogar stur an der politischen Macht mittels Winken mit der nationalistischen Fahne. Die Mehrheit jedoch wollte in der Versenkung verschwinden und hofft, daß keine schlimmeren Folgen als Armut oder Ächtung eintreten werden. Es ist Neuland für sie alle. Kein kommunistisches Lehrbuch widmet dem Rückzug vom Finnischen Bahnhof ein Kapitel.
Verschlossene Türen
Ein Exempel soll nun an Erich Honecker statuiert werden, dem Führer der DDR, der die schiefe Leiter von Haft und Exil hochkletterte, bis er an der Spitze der Berliner Hierarchie ankam. Durch die Umwälzungen von 1989 aus der Macht verdrängt, hat er jetzt keine Wahl, als seine Schritte zurückzuverfolgen, zurück in verschiedene Verwahrungsstätten und viele mögliche Länder des Exils.
Er mag sich in der Sowjetunion sicher gewähnt haben, doch vor einer Woche verschwand sein Schutz. Er wachte in Rußland auf, und man bat ihn zu gehen. Alt, krank, machtlos verschließen sich ihm immer mehr offene Türen, wie einst vor ihm dem Schah von Iran. Clodomiro Almeyda, Chiles Botschafter in Moskau — und selber ein Mensch, der lange im Exil gelebt hat — ließ Milde walten. Vorläufig genießt er also zeitweiliges Asyl in der chilenischen Botschaft.
Honecker, an der Macht bemerkenswert ungeliebt, hatte auch später wenige Bewunderer. Er gehörte jener seltsam grimmigen Generation von Apparatschiks ohne Lächeln an, die mit brüderlicher Hilfe aus der Sowjetunion die kommunistischen Länder Osteuropas kontrollierten. Wie auch immer idealistisch geprägt in ihrer Jugend, wie hart und vielleicht auch heldenhaft ihre Erfahrungen der allgemeinen Unterdrückung linksgerichteter Kräfte durch die Nazis in den 30er und 40er Jahren auch gewesen sein mögen — ins Rampenlicht der Macht gerieten sie als mittelalterliche Fanatiker, Menschen ohne Humor, ihre bleichen Gesichter den Gesellschaften gleich, über denen sie thronten.
Sie konnten die Macht nicht genießen, so wie ein Rabelaisscher Monarch sich an den Fleischtöpfen seines Palastes ergötzt haben mag — sie konnten sie nur erleiden, wie ein Mönch, der mit seinem Keuschheitsgelübde ringt. Nach dem Sturz der kommunistischen Herrschaft in der DDR betonten die Zeitungen die Tatsache, daß Honecker ein Jagdhaus auf dem Lande besaß. Doch in Wirklichkeit war die Fähigkeit osteuropäischer Führer, sich nach Art der Konsumkönige in den weiter westwärts liegenden Gesellschaften zu vergnügen, streng begrenzt. Zum allergrößten Teil waren sie puritanische Asketen, vom Glauben geleitet und Visionen huldigend.
Ungeliebt wie der Schah
Wenn Regierungen plötzlich den Besitzer wechseln, haben ihre führenden Personen manchmal jenseits der Grenzen Freunde. Es gibt Weltgegenden, wo die neuen Führer, die ja selber den Pendelschlag fürchten, die Verfolgung der von ihnen Gestürzten nicht mit allzu großer Inbrunst betreiben. Der über achtzig Jahre alte General Stroessner in Paraguay, der nicht als Bedrohung seines Nachfolgeregimes angesehen wird, verbringt seine letzten Jahre in einer Seeufervilla in Brasilia. Von Idi Amin hörte man zuletzt am Telefon eines saudiarabischen Swimming-pools. Manchmal gibt es die Notwendigkeit eines Geschäftes. In einem bekannten Tauschhandel erlaubte General Augusto Pinochet dem chilenischen Kommunistenführer Luis Corvalan die Ausreise ins sowjetische Exil. Dafür wurde Wladimir Bukowski in den Westen entlassen.
Aber es gibt auch Zeiten, wo die alten Führer von den neuen als eine zu große Gefahr oder Bedrohung angesehen werden. Bringen einige ihnen auch Ekel und Haß entgegen — sie mögen noch immer Unterstützer haben, die sich um ihre Sache scharen. Aus ihnen werden Symbole, die man zerstören muß. Solange der Altherrscher lebt, kann in seinem Schatten nichts Neues gedeihen. So erging es mehreren Unterstützern Salvador Allendes. Während Corvalan ins sichere Moskauer Exil gelangte, verfolgten Pinochets Handlanger einen anderen Allende-Minister, Orlando Letelier, bis in die USA und jagten ihn in die Luft. Ein anderer Minister starb in Buenos Aires ebenfalls durch eine Bombe. Shahpur Bakhtiar, der letzte Premierminister Irans vor der Ankunft des Ayatollah Khomeini, wurde in Paris getötet, nach mehr als zehn Jahren Exil. Man hielt diese Menschen für eine politische Bedrohung.
Auch der Schah von Iran, ein selbsternannter König der Könige, war seinen Nachfolgern eine Bedrohung. So fand er sich, als er ins Exil geriet, ohne Freunde wieder. Verzweifelt wie Trotzki zog er von Land zu Land und landete kurioserweise schließlich bei Graham Greenes Freund Omar Torrijos, Herrscher über Panama.
Chile in der Pflicht
Wie damals dem Schah ergeht es heute Honecker: Keiner will ihn haben, obwohl niemand ihn als Bedrohung empfinden könnte. Für Boris Jelzin und die Russen ist er eine irrelevante Peinlichkeit, Symbol einer verstorbenen Ideologie und einer begrabenen Freundschaft. Für die Amtsdeutschen des neuen Deutschland ist er ein Verbrecher, der der Justiz zugeführt werden muß. Andere sehen die Sache mit gemischten Gefühlen: Honecker ist ihnen ein Mensch, der zuviel weiß, dessen Offenbarungen noch immer denen, die dem Erbe der Vergangenheit zu entrinnen suchen, persönlichen Schaden zufügen könnten.
Wie damals der Schah sucht also auch Honecker Zuflucht in Südamerika. Viele alte Deutsche haben zu ihrer Zeit dort Zuflucht gefunden. Seine Tochter ist mit einem Chilenen verheiratet, und es gibt in Chile viele Pinochet-Gegner, die ihm noch ein Flugticket schulden. Denn nach General Pinochets Putsch 1973 suchten Tausende von Chilenen Zuflucht in ausländischen Botschaften in Santiago. Später zerstreuten sie sich in alle Winde, und Hunderte fanden Zuflucht in Honeckers Deutscher Demokratischer Republik. Eine hilfreiche Geste in einer entbehrungsreichen Zeit.
Heute ist die Sache nicht so einfach. Die DDR gibt es nicht mehr. Da ist nur das große neue Deutschland, einer der stärksten Verbündeten und Unterstützer des demokratischen Chile in Europa. Die Minister des modernen Chile fürchten trotz ihrer eigenen Exilerfahrung, die Freunde in Bonn zu kränken. Die chilenische Linke hat ihrerseits versucht, das Joch der vergangenen bedingungslosen Unterstützung für alles Sowjetische abzuschütteln. Ihre Aufgabe würde verkompliziert, sollte ihr Land einen linientreuen und reuelosen Honecker aufnehmen.
Die offizielle Position Chiles gegenüber Honeckers Ersuchen ist eine legalistische: Honecker hat keinen Paß und kann deshalb nicht reisen. Den chilenischen Ministern, die einst selber im Exil lebten, muß diese wenig hilfreiche Antwort schwergefallen sein. Einem alternden Antifaschisten die Türen ihrer Moskauer Botschaft offenzuhalten ist zumindest eine Verbeugung in Richtung dessen, was manchen unter ihnen 1973 in Santiago das Leben rettete. Richard Gott
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