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ESSAYDie UNO nach dem Golfkrieg

■ Über die positiven Folgen einer schiefgelaufenen Aktion

Eine der überraschendsten Schlußfolgerungen, die sich ein Jahr nach Beginn des zweiten Golfkrieges aufdrängen, betrifft die Folgen, die der Konflikt für Funktion und Ansehen der UNO gehabt hat. Bekanntlich war die UNO mit der Verabschiedung der Sicherheitsrats-Resolution 678 als handelnde Institution von den Golfgewässern weggetaucht. In der Folge unterlagen die militärischen Aktionen der Anti-Irak-Koalition keinerlei Kontrolle. Der Generalsekretär war aus dem politischen Prozeß ausgeschaltet, er bezeichnete den Krieg als Niederlage der UNO. Die in der UNO- Satzung vorgesehene Möglichkeit, durch den Abschluß von Abkommen eine UNO- Streitmacht zu schaffen (Art. 43 der Charta) und diese Streitmacht einem UNO-Stab zu unterstellen (Art. 47), wurde außer Acht gelassen, obwohl vor allem seitens der Sowjetunion seit 1988 konkrete Vorschläge zur Wiederbelebung dieser „vergessenen“ Institutionen gemacht worden waren. Das Ende der Ost-West-Polarität und damit der jahrzehntelangen Blockierung des Weltsicherheitsrats führte eben nicht dazu, das immense Potential in Bewegung zu setzen, das mit der Übereinstimmung der Supermächte in der Kuwait-Frage gegeben war. Ursache dieses Scheiterns war die Nicht- Politik der Sowjetunion. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als es zur Nagelprobe des „Neuen Denkens“ gekommen war, versuchte Gorbatschow, die baltische Krise mit den Mitteln des zentralisierten Zwangsstaats zu lösen. Er ließ den USA freie Hand, weil er befürchtete, die baltischen Freiheitsbewegungen könnten mit Hilfe eines weltweit legitimierten UNO-Militärinstrumentariums die Krise internationalisieren.

Sicherlich wäre eine „Antwort“ auf die flagrante Aggression des Irak im Rahmen der UNO-Institutionen langwieriger gewesen, sie hätte aber die Verhältnismäßigkeit im Einsatz der Kriegsmittel besser gewahrt als die Anti-Saddam-Koalition, sie wäre auch nicht von der Linie des „Kriegführen und Verhandeln“ abgegangen. Als Folge schienen die Möglichkeiten der UNO als universaler Friedensinstanz verspielt, ihr Ansehen dauerhaft beschädigt.

Paradoxe Kriegsfolge

Aber selten hat der Schein so getrogen wie in diesem Fall. Perez de Cuellar selbst hat anläßlich seines letzten Besuchs in Deutschland sein Urteil korrigiert und festgestellt, daß die Vereinten Nationen in der Kuwait-Krise ihrer Verantwortung gerecht geworden sind — freilich um einen hohen Preis an Menschen und Gütern. Er sprach von der Herausforderung, der sich die UNO angesichts neuer, hoher Erwartungen gegenübersieht. In der Tat ist die UNO zusätzlich zu den sechs seit längerer Zeit laufenden Friedenssicherungs- Missionen gegenwärtig in sechs weiteren Operationen dieser Art engagiert. Deren Aufgaben gehen weit darüber hinaus, den Puffer zwischen den Kampfparteien abzugeben. Paradoxerweise kann man sagen, daß, während der Golfkrieg in der Region selbst keine der Probleme löste, er sich als vorwärtstreibend bei der Bewältigung von Konflikten in anderen Weltregionen erwiesen hat. Bei der Analyse dieses Sachverhalts ist es unzulässig, zwischen der militärischen Aktion gegen den Irak nach dem Kapitel VII der UNO-Charta und den jetzt laufenden Peace-keeping-missions einen säuberlichen Trennungsstrich zu ziehen. Insbesondere die Resolutionen des Sicherheitsrates nach dem Erfolg der Irak- Intervention enthalten entwicklungsfähiges Material für eine künftige internationale Praxis der Friedenssicherung. Dies gilt insbesondere für die Resolution 687 mit der internationalen Grenzgarantie für Kuwait und den dort festgelegten überwachten Abrüstungsschritten und für die Resolution 688, die die Tür für Interventionen bei schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten aufstößt. In der Folge dieser Resolutionen ist im Rahmen der UNO eine Diskussion „über die Beziehung zwischen der territorialen Integrität von Staaten einerseits, dem Schutz der grundlegenden Rechte und Freiheiten gegenüber ihrer Mißachtung andereseits“ (Perez der Cuellar) aufgebrochen, die trotz manifest gewordener Ängste nicht mehr zu beerdigen ist. Auch Staaten wie Indien und China, die mit schweren, ungelösten Nationalitätenproblemen konfrontiert sind, stehen vor der Frage, ob eine Krisenprophylaxe mit Hilfe der UNO nicht billiger kommt als das sture Bestehen auf der Doktrin „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates“. Zunehmend kommen die Parteien in innerstaatlichen Konflikten zu dem Ergebnis, daß die Einschaltung von UNO-Friedensmissionen ein Win-win-game ist, d. h. beiden Konfliktparteien nutzt. Jüngste Beispiele: die massiv in die Souveränität der beteiligten Staaten eingreifenden UNO-Missionen in Kambodscha und El Salvador. Nicht die plötzliche Bekehrung zu universalistischen Prinzipien der Friedenssicherung ist für diese „Wende“ verantwortlich. Sie ist die Frucht von Ermattung, verbrauchten Ressourcen und einem Rest von Rationalität.

Diese Sicht der Dinge sieht sich einer doppelten Kritik ausgesetzt: sie verkenne die Machtverhältnisse innerhalb des die internationale Politik bestimmenden Nord-Süd-Konflikts und sie nehme die Grenzen nicht zur Kenntnis, die die jetzige Organisationsstruktur der UNO jeder effektiven UNO-Friedensaktion auferlegt. Es ist wahr, eine UNO-Reform ist weiter entfernt denn je, gerade infolge des Siegs der Anti-Irak-Koalition. Die angesichts des üblichen Procedere geradezu überstürzte Eile, mit der Rußland der ständige Sitz der Sowjetunion im Sicherheitsrat übergeben wurde, ist ein Indiz dafür. Die jetzigen Mitglieder des Rats denken überhaupt nicht daran, das Gremium der ständigen Mitglieder um Staaten der Dritten Welt zu erweitern, internationale Organisationen aufzunehmen, geschweige denn, etwas an der Kompetenzverteilung zwischen Rat, Generalsekretär und Vollversammlung zu verändern. Daß es eigentlich notwendig wäre, die gesamte UNO-Struktur nach der Etappe der Entkolonisierung auf die globalen ökonomischen und ökologischen Aufgaben auszurichten, liegt der universalistischen Rhetorik zum Trotz weit jenseits des Gesichtskreises der führenden Mitgliedstaaten.

Zur Ohnmacht verurteilt?

Perez de Cuellar hat deshalb realistischerweise dafür plädiert, noch innerhalb der bestehenden Satzung die Kompetenzen des Generalsekretärs als Vermittler zu stärken und seine Missionen finanziell abzusichern. Anders als zu Völkerbund-Zeiten hat der Generalsekretär einige wichtige Befugnisse — vor allem das Recht, jedes ihm wichtige Thema auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats zu setzen. Daraus folgt implizit, daß er auch die Möglichkeit haben muß, im Vorfeld einer solchen Entscheidung zu sondieren, Beobachter zu entsenden etc. Es gibt Stimmen innerhalb der UNO, die dafür plädieren, solche Sondierungsmissionen — etwa im Fall gravierender Menschenrechtsverletzungen — nicht an die Zustimmunmg der beteiligten Regierungen zu knüpfen.

Solche Schritte — unzureichend wie sie sind — können gerade in dem Konfliktbereich nutzen, wo Skeptiker die Aktionsunfähigkeit der UNO nachdrücklich konstatieren: beim Auseinanderfall von Vielvölkerstaaten und den ethnisch-nationalen Kämpfen, die sie begleiten. Diese Desintegrationsprozesse, wie sie sich nach Jugoslawien und der Sowjetunion für Indien jetzt drohend abzeichnen, sind auch deshalb so brandgefährlich, weil sie die Tendenz zur Internationalisierung haben. Im Fall Indiens geht es um die Konfrontation mit Pakistan, die in ihrer Unerbittlichkeit noch dadurch gesteigert wurde, daß beide Staaten Klienten je einer Supermacht waren. Die UNO ist bereits jetzt in Kaschmir präsent. Sie könnte, die Einwilligung der indischen Bundesregierung vorausgesetzt, auch in Indien selbst, in den Regionen tätig werden, wo der Gegensatz zwischen Hindus und Moslems zu bewaffneten Auseinandersetzungen eklatierte. Vorsichtig optimistisches Fazit: Mit der Vermehrung potentieller Kriegsherde wachsen auch die Chancen der UNO, friedensstiftend einzugreifen. Die öffentliche Meinung hierfür zu gewinnen wird gerade in den entwickelten kapitalistischen Staaten des „Nordens“ für den Erfolg ausschlaggebend sein. Christian Semler

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