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Archiv-Artikel

ERSATZ FÜR KREUZBERG Schubsen, Schreien, Schalgezerre

VON LAURA EWERT

Der letzte Ausgang in Kreuzberg war im Sommer. In jenem Teil des Sommers, als man nachts schon Jacken tragen musste. Da standen wir in der Schlange vor dem Farbfernseher, und hinter uns standen junge Menschen, die sich über Sternzeichen unterhielten. Und vor uns versuchte das amerikanische Modelmädchen mit seinem vielleicht französischen Modelfreund an der Schlange vorbei direkt reinzugehen. Der Farbfernseher ist in der Skalitzer Straße und heißt so, weil an dem Haus so ein Schild hing.

Das Publikum gehört zu dem Teil der Bevölkerung, die wegen des neuen „Conceptstores“ – eine türkische Folkloreband spielte zur Eröffnung, es gab 240-Euro-Designer-Vintage-Jäckchen – ganz aus dem Häuschen sind. „Ich kann das nicht“, sagte die Begleitung. „Ich ertrage diese aufgepeitschten und doch gelangweilten Menschen nicht so nah und ganz ohne Fluchtmöglichkeit.“ Wir gingen dann nach Hause. Zu Fuß, das ging da noch.

Nun also wieder Kreuzberg. Dort eröffnete ein neues Freizeitangebot. Das hielt ein Teil der Bezugsgruppe für den Hort des damenbärtigen Kreuzberg, während andere schon vor dem Besuch eine Kultaura vorhersagten. Aber dann spielten sich vor der Bahn dramatische Szenen ab, mit Schubsen, Schreien und Schalgezerre. Trotz glühweiniger Milde blieb die Gruppe verschreckt zurück und ließ zwei weitere Bahnen dorthin ziehen, was der Gleisdurchsager nur noch Stadtmitte nannte, weil vermutlich auch er nicht weiß, wohin diese Wagen rutschen werden. Rückzug!

Einige liefen zu einer Mafiaparty in einem früher mal besetzten Haus, zu der man sich schick anziehen musste. Was praktisch für sie war, sonnten sie sich doch noch immer gern im Licht der Punkattitüde und konnten dennoch ihren agenturkonformen Mantel tragen.

Die anderen gingen in eine Bar, in der sich die Tischnachbarn gegenseitig aus dem Partyangebotsteil des Stadtmagazins vorlasen: „Die Party hier ist für 20 Stunden angesetzt. Ha. 20 Stunden. Verrückt.“ Wie warteten auf unseren Fahrer und waren damit beschäftigt, das mit diesem Text in der taz zu thematisieren. Dass man da jetzt plötzlich auch noch etwas sagen dürfen wird, sagte jemand. „Vermutlich ist das Satire oder so“, sagt jemand anders. Erschreckend, wie wenig die Provokation noch funktionierte.

Wir schauten auf den Handys das Video vom Unfall bei „Wetten, dass . . ?“. Jemand war froh, dass danach nicht die sinkenden Buchstaben und die „Wette verloren“-Töne eingeblendet wurden. Dann fiel uns auf, dass wir uns nicht mehr erinnern konnten, wann aus „daß“ „dass“ wurde. Das Video war später nicht mehr zu finden. Wir stießen mit edlen Tropfen an.