EINE ANWÄLTIN GIBT IHREN BERUF AUF, WEIL SIE ANGST UM IHR LEBEN HAT : Alarm für den Rechtsstaat
Seyran Ateș ist eine Person des öffentlichen Lebens. Die türkischstämmige Anwältin hat Preise und Auszeichnungen erhalten, weil sie für Frauen und Mädchen eintritt, die von Gewalt und Zwangsheirat betroffen sind. Sie hat deren Anliegen in die Öffentlichkeit getragen und großen Anteil daran gehabt, dass sie heute politisch ernst genommen werden. Dafür zahlt Ateș einen hohen Preis. Bereits 1984 wurde sie lebensgefährlich verletzt. Und in diesem Sommer wurde sie erneut überfallen.
Ateș lebt also schon lange mit der Gefahr. Dass diese sie nun bewogen hat, ihre Zulassung als Anwältin zurückzugeben, kann man nicht als Einzelproblem einer traumatisierten Person abtun. Auch die Frage, warum sie gleich ihre berufliche Existenz aufgibt und diese Entscheidung öffentlich bekannt machte, führt in die falsche Richtung. Mag sein, dass Ateș einen Hang zur Dramatisierung hat. Das wirkliche Drama aber ist, dass Rechtsbeistände und Hilfsorganisationen in Deutschland das Ziel gewalttätiger Übergriffe sind. Dies gilt offenbar umso mehr, je öfter Themen wie Ehrenmorde und Zwangsheiraten öffentlich verhandelt werden. Denn deshalb melden sich immer mehr Opfer – und es gibt auch mehr Täter, die versuchen, Anwälte und andere Unterstützer einzuschüchtern.
Wenn eine Anwältin ihren Beruf aufgibt, weil sie sich von Prozessgegnern bedroht fühlt, dann ist das für einem Rechtsstaat alarmierend. Es ist gut, dass Verbrechen wie Zwangsehen und Ehrenmorde mittlerweile im Mainstream der Gesellschaft diskutiert werden. Doch auch die damit verbundenen Gefahren müssen stärker ins Bewusstsein rücken. So ist immer noch unklar, was eigentlich mit Opferzeuginnen passiert, wenn das Verfahren endet – und damit auch der Zeuginnenschutz. Aber nicht nur Polizei und Behörden sind gefordert. Viele möchten Zwangsehen und Ehrenmorde immer noch gern als Einwandererproblem abtun, mit dem sie nichts zu tun haben. Als Ateș überfallen wurde, mischten sich die umstehenden Passanten nicht ein. Vielleicht dachten sie, da sei wieder so ein türkischer Familienkrach im Gang. Das ist ein gesellschaftliches Problem. HEIDE OESTREICH