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Archiv-Artikel

EIN HAUS, AN DEM DER PUTZ ABBRÖCKELT Gedenken und Vergessen in Berlin

Gott und die Welt

MICHA BRUMLIK

November: Monat des Gedenkens. Auch in diesem Jahr, dem 75. Jahr nach den pseudospontanen Novemberpogromen des Jahres 1938, als Synagogen angezündet und Menschen, jüdische Menschen misshandelt und erniedrigt wurden, werden wieder „Stolpersteine“ gesetzt und damit an die Vertreibung, Deportation und Ermordung von Juden erinnert. Rührend ist zu sehen, vor wie vielen „Stolpersteinen“ in Berliner Straßen Gedenkkerzen stehen. Freilich: Diesen demonstrativen Ritualen der Erinnerung und des Gedenkens entsprechen unauffällige Praxen öffentlichen Vergessens.

Auf eines sei aufmerksam gemacht: Anders, als man glauben möchte, war die Hauptstadt der psychoanalytischen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert nicht etwa der Wohnort Sigmund Freuds, Wien, sondern Berlin. Dort existierte nicht nur an der Charité die erste psychoanalytische Ambulanz der Welt, hier lebten, forschten und therapierten später namhafte Mitglieder der psychoanalytischen Bewegung: nicht zuletzt in Wilmersdorf Edith Jacobson, die vor ihrer Flucht in die USA Mitglied einer sozialistischen Bewegung war, Franz Alexander, einer der Begründer der Psychosomatik, sowie John Rittmeister, ein nichtjüdischer Analytiker, der im Widerstand gegen Hitler sein Leben lassen sollte.

Hinzuweisen ist zudem auf den Begründer einer kritischen Erziehungswissenschaft und psychoanalytischen Pädagogik, Siegfried Bernfeld. 1892 in Galizien geboren und 1953 in San Francisco gestorben, wurde Bernfeld, in seiner Jugend zunächst Mitglied der linkszionistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair (Junger Wächter), zu einem der schärfsten und hellsichtigsten Kritiker der Reformpädagogik vom Stile der Odenwaldschule.

1925 erstmals erschien im Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Leipzig seine Schrift „Sisyphus oder die Grenzen der Erziehung“, die auch als Enttäuschungsverarbeitung gelesen werden kann. Bernfeld, der sich nach dem Krieg 1919 in einem Heimerziehungsprojekt der linkszionistischen Jugendbewegung in Wien engagiert hatte, war an dieser Aufgabe, dem Projekt „Kinderheim Baumgarten“, letztlich gescheitert.

Die Auseinandersetzung mit diesem Scheitern führte zu einer nicht mehr enthusiastischen, sondern wissenschaftlichen Haltung gegenüber allen Fragen der Erziehung. Diese Haltung, die ihn Freuds Psychoanalyse und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie als harte, empirisch überprüfbare Sozialwissenschaften verstehen ließen, stellen eine fulminante Kritik des unbegründeten pädagogischen Idealismus dar.

Bernfeld wünschte sich, dass in der Erziehung statt der Ethik „die Sozialwissenschaft, und zwar in ihrer härtesten und lebendigsten Form, der Marx’schen, die Psychologie in ihrer tiefsten und lebendigsten Form, der Freud’schen, ergänzen wird“. In seiner Berliner Zeit, wo er von 1925 bis 1932 am Psychoanalytischen Institut sowie an der Berliner Hochschule für Politik lehrte, lebte Bernfeld in Wilmersdorf in der Pariser Straße 18 a, einem Haus, an dem seit 2004 eine Gedenktafel für ihn angebracht war. Von diesem Haus bröckelte seit Jahren, als sei es vom Aussatz befallen, der Putz ab, während sich im Parterre mehr oder minder gut gehende Kneipen gnadenlos Konkurrenz machten. Insofern war es durchaus einsichtig, dass die Eigentümer die Fassade des Hauses von Grund auf sanierten, sodass es nun ansehnlich dasteht.

Indes: Der Renovation und Sanierung des Hauses Pariser Straße 18 a ist die vor Jahren neben der Eingangstür angebrachte Gedenktafel für Bernfeld zum Opfer gefallen. Wo vormals an einem vergammelten Haus immerhin noch historische Erinnerung waltete, glänzt jetzt Leere. Man kann diesen Vorgang nicht anders denn als Kulturschande bezeichnen und nur feststellen, dass er dem Motto Berlins für das Jahr 2013, „Zerstörte Vielfalt“, ins Gesicht schlägt. Man kann schließlich nur hoffen, dass dies nur aus Nachlässigkeit oder Vergesslichkeit und nicht etwa aus einer gastronomischen Absicht heraus geschehen ist – etwa aus der Überlegung, dass mögliche Gäste durch derlei schwer verdauliche Gedenktafeln vom Besuch eines Lokals abgeschreckt werden könnten … Auf jeden Fall sei hiermit an die Besitzer des Hauses Pariser Straße 18 appelliert, die im Zuge der Renovation abgenommene Tafel noch vor Ende des Gedenkjahrs 2013 wieder anzubringen.

■ Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler. Er lebt in Berlin