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Archiv-Artikel

Durchs milde Osnabrück

Die Anklagepunkte bröckeln weg: Dass der Deutschrusse Vitali R. mit Heroin gehandelt hat, gilt als sicher. Welchen Part er in der Bande spielte, entzieht sich zunehmend der Klärung

„Ich bin hier“, hat ‚der Dicke‘ dem Mittelsmann per Handy gesagt. „Ich bin auch hier“, war die Antwort

aus Osnabrückvon BENNO SCHIRRMEISTER

Da war es nur noch einer: Zu Beginn des achten Verhandlungstages trennt der Vorsitzende Richter der zehnten großen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück auch das Verfahren gegen Eugen H. ab. So wie vorher schon das gegen die Schwägerin des Hauptangeklagten. Die ist mittlerweile freigesprochen.

Ab sofort sitzt Vitali R. nun also allein auf der Anklagebank, und es ist keine Vorverurteilung zu behaupten, dass für ihn die Sache nicht mit einem Freispruch ausgehen wird: Da ist dieses Sieben-Kilo-Geschäft, in das er involviert war, von dem er aber behauptet, nicht er, sondern sein Bruder sei die treibende Kraft gewesen. Bei dem Geschäft handelt es sich um den Import von Heroin, und es sind damals, im Sommer 2003, Telefongespräche geführt worden zwischen Vitali, dem albanischstämmigen Importeur G. alias „der Dicke“ und Vitalis Bruder Theodor, der auch Tudscha genannt wird. Es war nämlich zu Komplikationen bei der Übergabe gekommen, weil der beauftragte Mittelsmann den Treffpunkt nicht gefunden hatte. „Ich bin hier, bei Kirche“, hat der Dicke diesem per Handy mitgeteilt. Und der hat leicht verzweifelt geantwortet, dass er „auch hier“ sei. Im Anschluss kam es zu den Auslandstelefonaten: Eine dusselige Sache das, wo sich doch Vitali damals schon ganz auf seinen Grundbesitz in Marbella zurückgezogen haben wollte. Sein Bruder weilte zum gleichen Zeitpunkt in Kasachstan. Da sind die beiden Deutschen geboren. Der Dicke ist mittlerweile rechtskräftig verurteilt. Tudscha auch: zu elfeinhalb Jahren und Einzug des Vermögens. Weshalb es ihm egal sein kann, dass ihn sein Bruder nun als Rädelsführer darstellt. Vitalis Umzug nach Spanien macht das auch einigermaßen plausibel: Was will man mit in einem Waldstück bei Osnabrück vergrabenem Heroin, wenn man an der Costa del Sol residiert?

Trotzdem habe seinen Mandanten die Aussage „große Überwindung gekostet“, sagt Vitalis Verteidiger Jens Meggers. „Den Bruder beschuldigen, das macht man in diesen Kreisen nicht.“ Und die Presse solle da bitte, bitte keine große Sache draus machen, „sonst ist er ein toter Mann“. Was aber nicht wörtlich gemeint sei.

Zur Verhandlung am Freitag ist Vitali R. mit zehn Minuten Verspätung erschienen. Der Richter hat das als „unkollegial“ gerügt. Schließlich habe der Herr R. doch gewusst, wie sehr Eugen H. in Eile war. Dessen Verfahren wird nämlich auch aus praktischen Gründen abgetrennt. Weil Eugen H. einen dringenden Termin hat. Um 9.15. Uhr, Amtsgericht. Dort lautet der Vorwurf: Schwere Körperverletzung. Und unkollegial ist ein schlauer Ausdruck, weil Vitali und Eugen derselben Bande angehören. Die Banden-Ehre kitzeln, das ist ein Amüsement, das sich ein Richter wohl mal gönnen darf. Dass er Eugen H.s Treue zu Vitali damit kaum erschüttern wird, weiß der Vorsitzende wohl selbst am besten. Die ist festgeschweißt, seit der Hauptangeklagte dem Kleindealer einmal das Leben gerettet hat. Damals hatte offenbar ein rivalisierender Clan den Eugen geschnappt und nach einer Prügelei per Auto durch die Gegend geschleift. Durch’s milde Osnabrücker Land.

Es wird noch eine Weile dauern bis zum Urteil. Die nächsten Termine liegen Ende Juli, Anfang August. Es sind noch nicht die Plädoyers. Trotzdem lässt sich schon einmal bilanzieren, dass das Verfahren für die Staatsanwaltschaft unter keinem guten Stern steht. Das fängt schon damit an, dass ihr Vertreter mittendrin ins Krankenhaus musste. Blinddarm. Der eingesprungene Kollege hatte sich zwar redlich bemüht, musste aber selbstverständlich immer auf der Hut sein, seine Kompetenzen nicht zu überschreiten. Jetzt ist die Erstbesetzung wieder da, aber das Heft des Handelns hat sie auch nicht an sich gerissen. Sagt kein Wort, den ganzen Tag nicht, außer dem unvermeidlichen: „Keine weiteren Fragen.“ Verdrießlicher für ihn ist natürlich, dass nach und nach die Anklagepunkte wegbröckeln: Zuerst waren es 33, verlesen wurden zehn, jetzt sind es noch zwei.

Der wichtigere, das ist die Sache mit der Rädelsführerschaft. Der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz allein, das werden schon ein paar Jahre Freiheitsstrafe sein. Rädelsführerschaft aber „würde wohl zweistellig bedeuten“, sagt Meggers. Und dieser Vorwurf wankt nun auch. Das ist bemerkenswert, weil für Volkesstimme und Lokalzeitung genau das von vornherein feststand: „Prozess gegen Kopf der Russen-Mafia beginnt“, hieß es in der Neuen Osnabrücker Zeitung im Februar 2004. Und im März dann, da war das Verfahren gerade geplatzt, hieß es „Der Kopf der ‚Russen-Mafia‘“ sei „auf freiem Fuß“. Bedrohlich. Diesen Mai schlagzeilte man wieder etwas von einer zweiten Runde „gegen Banden-Chef“. Und aus dem Publikum waren am ersten Verhandlungstag noch Forderungen laut geworden, dass die deutsche Justiz „bei solchen Leuten“ ein bisschen zackig und härter durchzugreifen hätte, „also dass der nicht in Haft sitzt …!“ In der angelsächsischen Welt werde da nicht so viel Federlesens betrieben. Die stark geschminkte Dame mit dem Jägerhütchen und den entschiedenen Ansichten ist später dann, als es komplizierter wurde, nicht wiedergekommen. Überhaupt ist das Publikumsinteresse stark zurückgegangen. Am achten Verhandlungstag ist man fast unter sich, bis auf einen blassgesichtigen Jungspund mit Russischkenntnissen, der nicht einmal zur Ordnung gerufen wird, als er sich in die Verhandlung einbringt. Die vereidigte Dolmetscherin allerdings verbittet sich wohlmeinende Einwürfe: „Das ist falsch“, weist sie den Slawistik-Studenten im Publikum zurecht.

Auf sprachliche Feinheiten kommt es an, das weiß auch Vitali R.: Sonst wohnt er, ungerührt und gut gekleidet, den Verhandlungen bei. Jetzt interveniert er, einmal redet er in russischer Sprache auf die Sachverständige ein, bis der Richter darauf hinweist, dass er so nichts verstehen kann. Der Vorwurf basiert nämlich hauptsächlich auf zwei Sätzen aus etlichen Stunden Abhörprotokoll. Beim einen kommt es darauf an, ob die erste Person plural im Russischen auch eine unpersönliche Bedeutung haben kann. Was sie wohl kann. Der entscheidende Satz aber stammt aus dem Urteil gegen den Bruder Theodor: „Wie viel mehr“, werden dort die Tonbandabschriften zitiert. Und genau das würde laut Anklagebehörde zeigen, dass Vitali Herr über die Quantitäten war. Und wer die Menge bestimmt, ist in Sachen Rauschgiftschmuggel König.

Das Problem: Der Satz ist falsch. Und woher er kommt: ein Rätsel. Auf dem Tonband heißt es nämlich „wie viel mir“, sagt die Übersetzerin recht energisch. „Wie viel mir, nicht wie viel mehr“, da gebe es kein Vertun. Der Staatsanwalt sitzt unterdessen oben in seiner Bank, schaut sich die Szene an. Und macht in seiner Kladde einen Strich.