: Durch nichts zu substituieren
Dokumentarfilm über eine Gruppe von Kinojunkies in New York: „Cinemania“ von Angela Christlieb und Stephen Kijak nähert sich der skurrilen Sucht mit Neugier und Respekt
von JAKOB HESLER
„Jean-Luc Godard! Jean Renoir! Trintignant! Alfred Hitchcock!“ französeln Stereo Total im Vorspann: Cinemania! Was für die frankophile Truppe Koketterie ist und für gewöhnliche Cineasten geliebtes Hobby, hat sich für einige Bewohner New Yorks zu einer Krankheit entwickelt. Die Flucht ins Reich der Leinwandträume ist bei diesen Filmjunkies Dauerzustand. Sie haben ihr gesamtes soziales und berufliches Leben aufgegeben, um zwei bis acht Filme pro Tag anzusehen. Im Kino, wohlgemerkt. Video gilt schon aus technischen Gründen als minderwertige Substitution der Droge. Außerdem, was wäre das für eine Flucht, wenn die film buffs dabei in der fluchtwürdigen Wirklichkeit der eigenen Wohnung blieben, die in den meisten Fällen völlig zugemüllt ist?
Cinemania von Angela Christlieb und Stephen Kijak ist eine sympathisierende Freak-Show, deren Protagonisten wie die Mitglieder einer typischen Selbsthilfegruppe wirken: der einfältige Harvey, der hochneurotische Bill, die cholerische Seniorin Roberta, der pingelige Eric, der intellektuelle Jack. Der Dokumentarfilm begleitet die fünf durch ihren äußerst stressigen Alltag. Der logistische Aufwand, den sie betreiben, ist enorm, denn das Angebot von einem guten Dutzend ausgewählter Programmkinos, Filminstituten und Kunstmuseen muss unter einen Hut gebracht und dann noch mit dem New Yorker U-Bahn-Netz abgestimmt werden. In Hamburg, denkt sich da der Zuschauer, bestünde solche Suchtgefahr nicht. Man male sich aus: Abhängige pendeln wie irre zwischen dem 3001 und dem Metropolis hin- und her, um ja nichts zu verpassen. Bei allem Respekt vor diesen Häusern: ein unmögliches Bild.
In New York kann man dagegen das eigene Leben in ein permanentes Filmfest verwandeln. Während der normale Kinofreund nach zwei Dutzend Filmen auf der Berlinale reif für die Reha ist, schafft etwa Jack 1000 Stück in acht Monaten. Dabei schauen sich die Cinemaniacs mit Ausnahme des Allesfressers Harvey nicht einfach irgendwas an. Als durchgedrehte Sammler sind sie ständig auf der Jagd nach dem einen unbekannten japanischen Lesbenporno oder dem besonders raren 50er-B-Movie.
Bill erzählt, sein Therapeut wolle ihn zur Aufnahme sozialer Beziehungen bewegen. Aber Bill fragt zurück: „Zählt denn in dieser Gesellschaft nur Liebe als Erfahrung? Was ist mit meinen wunderbaren Erfahrungen mit Filmen?“ Vier der fünf leben von der Sozialhilfe und können sich ihre Sucht nur durch Mitgliedskarten leisten, mit denen sie gratis ins Kino kommen. Bloß Jack Angstreich ist wohlhabend. Er ist zudem eloquent und fungiert als Kommentator der Dokumentation. Der junge Mann weiß, dass man im echten Leben nach dem Film heimgehen muss. Weswegen er lieber gleich im Kino bleibt für den nächsten. Das sieht er nicht als Furcht vor Wirklichkeit – gemäß seinem Filmcredo: „Gute Filme verkaufen nicht die Wirklichkeit als Traum, sondern befreien sie von den Träumen und zeigen den Abgrund an Nichts dahinter.“
Das Merkwürdige an diesem zwanghaften Rückzug aus den gesellschaftlichen Zwängen ist, dass er im Kino wieder ins Soziale umschlägt, wenn auch nur rudimentär und als Nebenprodukt. Der eine film buff erkennt den anderen sofort. Bald darauf führen sie ein Gespräch über 60er-Musicalfilme. Der Film betreibt keine Ursachenforschung, sondern lässt die „Betroffenen“ reden. Er stellt nicht die Biographien in den Mittelpunkt, sondern das Kino. Aber das ist eben gerade ihre Perspektive und deshalb allemal fair.
heute, morgen + 2.–4.6., 18 Uhr, 3001; 12.–14.6., 20 Uhr, Lichtmeß