„Dunkler Fleck“ – weißer Fleck

Nach der Februarrevolution 1917 wurden viele Diskriminierungen gegen Juden beseitigtAuch jüdische Bolschewiki haben bei aller Linientreue das Erbe der Aufklärung nie verleugnen können

von CHRISTIAN SEMLER

Letzte Zweifel an der antisemitischen Grundierung der Feiertagsrede des CDU-Bundestagsabgeordneten Hohmann sind von ihm dankenswerterweise in dem Fernsehmagazin „Frontal 21“ ausgeräumt worden. Dort präzisierte er, vom Konjunktiv zum Indikativ wechselnd: „… auch in der Geschichte des jüdischen Volkes gibt es dunkle Flecken. Ein solcher Fleck war die Beteiligung des jüdischen Volkes an der bolschewistischen Revolution von 1917.“ Widerlegt sich die Absurdität dieses Vorwurfs von selbst? Ist es nicht klar, dass „das jüdische Volk“, aus wem immer es 1917 bestehen mochte, sich offensichtlich nicht in seiner Gesamtheit an der Oktoberrevolution hatte beteiligen können?

Das Tückische an Stereotypen und insbesondere solchen aus dem antisemitischen Arsenal besteht jedoch leider darin, dass Fakten aus ihrem Zusammenhang isoliert, mit frei Erfundenem vermischt und anschließend zu einem Gebräu zusammengerührt werden, das den Durst nach einfacher Welterklärung stillen soll. Deshalb ist es nützlich, gegenüber Hohmanns Rede auf ein paar Tatsachen aus der russischen und sowjetischen Geschichte hinzuweisen.

Zu Ende des 19. Jahrhunderts verschärfte sich unter der Herrschaft des letzten Zaren Nikolaus II. die repressive Politik gegenüber den mehr als zwei Millionen jüdischen Einwohnern des Zarenreiches. Die zaghaften Liberalisierungsschritte von Nikolaus’ Vorgängern wurden rückgängig gemacht, nach wie vor galt der Zwangsaufenthalt im westlichen „Ansiedlungsrayon“ des Reiches, die Juden waren vielfach rechtlich benachteiligt, ihnen blieb der Zugang zu Staatsämtern verwehrt. Am Zarenhof selbst grassierte ein militanter Antisemitismus. Unter Nikolaus II. entfesselten die Schwarzhundertschaften, die „Tschoryie sotni“ über 60 blutige Pogrome gegen wehrlose Juden. Wenngleich der Zar selbst diese Massenmorde nicht befohlen hatte, wurden sie dennoch als Ausdruck des „russischen Patriotismus“ gewertet. Unter diesen Bedingungen war es klar, dass sich der Großteil der entrechteten jüdischen Minderheit des Zarenreiches den Oppositionsparteien anschloss, die das autokratische Regime bekämpften und für Minderheitenrechte eintraten.

Am entschiedensten tat dies der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, kurz Bund genannt, eine 1897 im litauischen Wilna gegründete sozialistische Organisation. Sie teilte mit der etwas später gegründeten russischen Sozialdemokratie die marxistische Orientierung, forderte aber für die russischen Juden in einem künftigen sozialistischen Russland einen autonomen politischen Status. Wegen dieser Forderung geriet der Bund, bei weitem die größte Arbeiterorganisation Russlands, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Gegensatz zu den Bolschewiki Lenins. Der Antagonismus verschärfte sich noch, weil der Bund auf demokratische, dezentralisierte Organisationsformen setzte, während die Bolschewiki auf einer straff geführten Kaderorganisation bestanden.

Nächst dem Bund organisierten die Menschewiki als reformistisch orientierte Fraktion der gesamtrussischen Sozialdemokratie die meisten jüdischen Anhänger. Ihre wichtigsten Führer, zum Beispiel Juri Martow, Fedor Dan, Rafael Abramowitsch und Pawel Axelrod, waren jüdischer Herkunft, allerdings, wie die „Bundisten“ auch, Anhänger eines aufklärerischen Laizismus. Die Menschewiki standen in der Organisations- wie der Autonomiefrage gegen die Bolschewiki. Auch in den Reihen der Sozialrevolutionäre, die sich hauptsächlich auf die ländlichen bäuerlichen Massen stützten, finden wir an prominenter Stelle jüdische Aktivisten, zum Beispiel Mark Natanson.

Im Gegensatz zu diesen Organisationen organisierten die Bolschewiki als radikal-revolutionäre Fraktion der russischen Sozialdemokratie nur relativ wenige Juden. Vor 1917 gehörten 954 Juden der 23.600 Mitglieder zählenden Partei an, also rund vier Prozent. Nach der Revolution stieg der jüdische Prozentsatz vorübergehend an, man spricht von 2.180 neuen Mitgliedern, andere Autoren nennen höhere Zahlen, um nach 1921 wieder auf fünf Prozent zu fallen. In der Führungsgruppe der Bolschewiki waren demgegenüber an prominenter Stelle russische Juden vertreten, beispielsweise Leo Trotzki (der sich erst spät den Bolschewiki anschloss), Jakob Swerdlow, Grigori Sinowjew und Lew Kamenew, also ein Großteil der alten „bolschewistischen Garde“. Diese Revolutionäre waren dem jüdischen kulturellen Milieu vollständig entfremdet. Sie, die allesamt später Stalin zum Opfer fielen, figurieren an prominenter Stelle als „Beweis“ für den „jüdischen Bolschewismus“ und die „Judäo-Kommune“.

Die Februarrevolution 1917 wurde von den russischen Juden fast einhellig begrüßt, jüdisch-russische Funktionäre traten sogar zeitweilig in die Regierung ein. Nach dem Februar wurden die meisten antijüdischen Diskriminierungen beseitigt. Die Oktoberrevolution, das heißt deren militärischer Auftakt mit dem Sturm auf das Winterpalais, wurde hingegen von linken wie linksliberalen jüdischen politischen Aktivisten überwiegend kritisch beurteilt.

Fast unmittelbar nach der Oktoberrevolution wurde, im Dezember 1917, die Tscheka organisiert, eine Geheimpolizei zur „Unterdrückung der Konterrevolution“, die von vornherein mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet wurde. Feliks Dzierzynski, ein alter Revolutionär polnisch-jüdischer Herkunft, sammelte einen Kernbestand von Funktionären um sich, die er aus früheren konspirativen Zeiten kannte und denen er vertraute. Darunter befanden sich viele Nichtrussen, Polen, Letten, Angehörige der asiatischen Völker und natürlich auch Juden, so auch Mojsche Uritzki, der erste Chef der Moskauer Tscheka, und weitere führende Tschekisten. Der „rote Terror“, so die Selbstbezeichnung des Unterdrückungsapparats war keine Erfindung der Tschekisten, sondern wurde von Lenin selbst begründet und gutgeheißen. Selbstverständlich wurde er auch von Revolutionären jüdischer Herkunft verteidigt, ebenso wie er von anderen jüdischen Kommunisten abgelehnt wurde. Als Beispiel sei auf die Kontroverse zwischen Dzierzynski und dem jüdischen linken Sozialrevolutionär Isaac Steinberg verwiesen, bei der es darum ging, ob die Tscheka dem Justizministerium verantwortlich sein oder autonom agieren sollte. Steinberg unterlag.

Die Tscheka legte nahezu von Anfang an einen Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf die Bekämpfung anderer linker Arbeiterorganisationen, also des Bundes, der Menschewiki, der Anarchisten und der Sozialrevolutionäre. Auf der Internierungsliste der Tscheka vom Frühjahr 1918 finden wir Martow, Dan und Abramowitsch, alles Funktionäre jüdischer Herkunft. Die Repressionsmaßnahmen riefen Gegenwehr hervor. Es war der jüdische Sozialist Kannegießer, der den Tscheka-Funktionär Uritzki erschoss, und es war eine jüdische Anarchistin, Fanja Kaplan, die das Attentat auf Lenin zwar nicht ausführte, aber mitorganisierte. Deswegen ist es völliger Unsinn, von der Tscheka als einem jüdischen Unterdrückungsinstrument zu sprechen.

Im Verlauf des Bürgerkrieges, der der Oktoberrevolution folgte, wurden von konterrevolutionären Kräften in der Ukraine und anderen Teilen des Reiches blutige Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung organisiert. Zwischen 1917 und 1921 kam es zu über 1.200 Pogromen in Städten und „Schtetls“, denen 60.000 Juden zum Opfer fielen, während hunderttausende fliehen mussten und Hab und Gut verloren. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um herauszufinden, dass in dieser lebensbedrohenden Situation die Bolschewiki, die Rote Armee und die Sondereinheiten der Tscheka von den Juden als Rettung angesehen wurden. So sahen es auch viele gläubige Juden. Die konterrevolutionären „weißen“ Streitkräfte waren es, die während des Bürgerkrieges das Schlagwort von der „Judäo-Kommune“ erfanden, um ihre Schlächterei unter den Juden zu rechtfertigen. Zwanzig Jahre später folgten die Nazi-Okkupanten mit dem systematischen Mord an den Juden im Zeichen des Kampfs gegen den „jüdischen Bolschewismus“. Hohmanns Argumentation bewegt sich auf dieser Traditionslinie.

Die Unterdrückungsmaßnahmen, zu denen die Bolschewiki im Bürgerkrieg und danach griffen, waren also keineswegs das Werk „des jüdischen Volkes“ oder auch nur einzelner jüdischer Menschen, die sich „von Gott abgewandt hätten“. Innerhalb des jüdisch geprägten osteuropäischen Milieus hatte die religionskritische Aufklärungsbewegung vielmehr eine Tradition von zweihundert Jahren. Sich von Gott abzuwenden bedeutete, einem laizistischen Humanismus zu folgen, bedeutete Toleranz und Demokratie. Das ist die Erbschaft, die vor allem der „gottlose“ Bund antrat und nach der er seine politische Aktion ausrichtete. Und auch die jüdischen Bolschewiki haben bei aller für sie verhängnisvollen Linientreue das Erbe der Aufklärung nie verleugnen können. Noch spielt in Hohmanns Argumentation die andere Seite der antisemitischen Weltverschwörungstheorien, die amerikanische Plutokratie, keine Rolle. Wir sahen während der Auseinandersetzungen über die Entschädigung für die Zwangs- und Sklavenarbeiter, wie sich diese „andere Seite“ auch in Deutschland wieder Gehör verschafft: in der Rede von der Raffgier amerikanischer Juden und ihrer Anwälte, wie sie es geschickt verstünden, sich selbst in der Opfer- und die Deutschen in der Täterrolle zu fixieren. Aber wer, wie Hohmann, für Gott und Vaterland streitet, wird sich bestimmt auch dieser „anderen Seite“ zuwenden.