: Drüben kostet die Butter einszehn
Eine neue Fußgängerbrücke über die Neiße wird eröffnet: Alltägliche Gänge und Stippvisiten in der Vergangenheit an der östlichen Grenze der Europäischen Union ■ Aus Ostritz und Krzewina Detlef Krell
Krzewina Zgorzelecka. Auf dem Bahnsteig fährt der Personenzug von Görlitz ein, zur Weiterfahrt nach Zittau. Drei, vier Reisende steigen aus, gehen die paar Schritte zur Brücke, an dem polnischen Grenzposten vorbei, der mit Zigarette in der Hand an einem Laternenpfahl lehnt. An der Neißebrücke müssen sie warten. Drüben, im deutschen Ostritz, geht es feierlich zu. In der Mitte der weißgestrichenen Stahlbrücke baumelt ein zur Schleife gewundenes Band im Novemberwind. Ein weißer Strich markiert seit heute die Grenze. Die Neiße ist an dieser Stelle breit und tief.
„Reisende von und nach Ostritz“, wie es im Kursbuch hieß, mußten seit dem Ende des Krieges immer wieder diese Brücke passieren. Die alte Bahnstrecke zwischen Görlitz und Zittau, früher wichtige Ader des Eisenbahnverkehrs zwischen Berlin, Prag und Wien, überquert hinter Hagenwerder die hier mehrfach gewundene Neiße. Erst nach 17 Kilometern, vor Hirschfelde, kehrt sie über den Fluß zurück.
Das deutsche Dorf Grunau hatte seit Jahr und Tag seinen Bahnhof mit Fahrkartenluke, Wartebank, Bahnsteig 1. Dann wurde die Neiße zur Grenze erklärt, Grunau zum polnischen Dorf Krzewina, und diesen Bahnhof betrieb die Polnische Staatsbahn. Aber das Gleis blieb liegen. Die Brücke bekam ein mit Stahldornen bewehrtes Gittertor, und bewaffnete Posten beider Länder mußten darauf achten, daß sich die sozialistischen Nachbarn beim Verreisen nicht zu nahe kamen.
„Dort war der Fahrkartenverkauf.“ Auf der Ostritzer Seite zeigt ein älterer Mann auf ein leerstehendes Gebäude aus Klinkersteinen. Mit Fahrkarte und Personalausweis in der Hand, mußte er hier an der Kaserne vorbei, in der Panzertruppen der Nationalen Volksarmee einquartiert waren. Am Gittertor stand der Posten. Wenn der Zug eintraf, wurde aufgeschlossen. „Wir hatten uns daran gewöhnt. Nein, mit den Polen sind wir nie näher zusammengekommen.“ Soweit er sich erinnern kann, blieb die Prozedur immer die gleiche, auch als in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, 1981. Irgendwann wurde der Fahrkartenverkauf eingestellt, Tickets gibt es seitdem im Zug. In den letzten Jahren war nur ein polnischer Posten als Schließer am klapprigen Grenztor beschäftigt. Bis heute geht in Krzewina die Grenze mitten durch den Fahrplan. Reisende, die nach Zgorzelec oder Bogatynia unterwegs sind, begegnen nie denen, die nach Görlitz oder Zittau wollen.
Aber nun soll alles besser werden. Rund 200 Menschen sind an den Ostritzer Brückenkopf gekommen, um die Öffnung des Grenzüberganges nach Krzewina zu erleben. In den Morgenstunden hatte ein Zöllner bereits die martialische Dornenkrone vom Gittertor geschraubt und symbolhungrige Fotografen verscheucht: „Das ist nichts für Sie zum Fotografieren!“ Dann der festliche Akt. Helmut Gülpers vom Hauptzollamt Löbau hält die Rede, zitiert Europa, dankt den „Nachbarn in der Volksrepublik Polen“. Der Hauptzöllner mit dem schwäbischen Zungenschlag wünscht eine sprichwörtlich „goldene Brücke“, wo „stets aufgeschlossene und höfliche Abfertigungsbeamte frohen und freundlichen Reisenden begegnen“.
In der dritten Reihe der ZuhörerInnen wird indes über die Vorteile der Toröffnung nachgedacht. „Viel ist nicht zu erhoffen“, meint eine Frau, „das Stück Butter kostet dort schon einszehn. Da mußt du schon Zloty eintauschen, das kommt billiger.“ Eine ältere Dame freut sich, ihre Cousine zu treffen. „Sie wohnt drüben in Schönfeld“, im polnischen Lutogniewice. „Wollte ich sie besuchen, mußte ich in Zittau über die Grenze. Jetzt wird alles einfacher.“ Das hofft auch Tadeusz Kucharski, Bürgermeister der kleinen Grenzstadt Bogatynia. „Wir sind besonders an kommunaler Zusammenarbeit interessiert“, bis jetzt gebe es nichts dergleichen. „Normale wirtschaftliche Kooperation“, kulturelle und sportliche Begegnungen erwarte seine zwischen dem Braunkohletagebau Turow, dem größten Erdloch Mitteleuropas, und der EU- Außengrenze eingeklemmte Stadt. Dieser neue Grenzübergang war bereits 1992 im Nachbarschaftsvertrag zwischen Polen und Deutschland vereinbart worden. Weitere sollen folgen, sechs neue Übergänge sind geplant. Jan Serafin, Direktor des Woiwodschaftsamtes Jelenia Gora, und Gülpers zerschneiden das Band, und die deutschen Gäste gehen – heute ohne Paßkontrolle – hinüber nach Polen. Ein Klempner aus Zgorzelec ist eben erst mit seiner Arbeit fertig geworden. Er hatte noch an dem aus Fertigteilen zusammengeschraubten Sanitärhaus zu tun. Darin werden auch Flüchtlinge ausharren müssen, die von deutschen Beamten in den „sicheren Drittstaat“ abgeschoben wurden. Davon jedoch ist heute nicht die Rede.
Für Grzegor Grzeszykowski, den jungen polnischen Grenzer, bringt dieser Tag ein wenig Abwechslung in den sonst monotonen Dienst auf dem stillen Dorfbahnhof. „Bis jetzt haben wir allein aufgepaßt, daß keiner in den falschen Zug einsteigt.“ Von heute an sind Zoll und Paßkontrolle mit dabei. „Hier sind Zigaretten mit dem Schlauchboot über die Neiße geschmuggelt worden“, berichtet der Grenzer von den Höhepunkten seines Zeitjobs. Seit zwei Monaten sei er nicht mehr zu Hause gewesen, zum Kurztrip über die Grenze gab es keine Gelegenheit. Für seine KollegInnen auf der deutschen Seite schon, doch sie wüßten nicht, wozu. „Ist doch kein Markt drüben“, sinniert ein Bundesgrenzschützer, „was soll man denn da rüberfahren.“ Die Mannschaft von der Grenzschutzstelle Zittau freut sich auf den gemütlichen Dienst in Ostritz. Kein Streß mit Autos und Lastern, der Übergang ist nur von 8 bis 18 Uhr geöffnet, nur für Fußgänger und Radfahrer.
Zwei junge Männer kommen über die Brücke. Der BGS-Mann nimmt ihnen die polnischen Pässe ab, verschwindet damit im Büro. Durch das Fenster sieht man ihn telefonieren. Dann kommt er wieder heraus, die Pässe gehen zurück, und die beiden Polen dürfen passieren. „Kommt ganz drauf an“, lächelt der Kontrolleur hintergründig, „entweder ins Buch gucken oder anrufen. Das ist die EU-Außengrenze, da gibt es strenge Vorschriften.“
Auf die Vorschriften allein wollten einige Ostritzer BürgerInnen nicht vertrauen. Sie sammelten Unterschriften gegen die Öffnung der Grenze. Von drohenden Einbrüchen war die Rede, von Zuständen „wie in Bad Muskau“. Der „Polenmarkt“ in dem Grenzstädtchen, siebzig Kilometer nördlich von Ostritz, ist als erstrangiges Einkaufsziel deutscher „Touristen“ bundesweit bekannt. An einem Wochenende im Oktober waren 180.000 BundesbürgerInnen nach Bad Muskau gekommen, um über die Brücke „einkaufen zu gehen“. Reisebüros, vor allem in den alten Bundesländern, werben mit „Abenteuerfahrten zum Polenmarkt“. Heinz Jeremias, ein Mittfünfziger in Schlosserjacke, der sich das spärliche Treiben am neuen Kontrollpunkt aus einiger Entfernung anschaut, glaubt zwar nicht, daß „drüben“ eine Bretterbudenstadt entstehen wird wie in Bad Muskau. Seine Gewißheiten sind anderer Art: „Die Grenze kommt eines Tages sowieso weg von hier.“ Nicht weil Grenzen überflüssig werden. „Ich denke, daß die eines Tages weiter reinkommt, fünfzig Kilometer. Unsere Leute hier denken, daß wir uns die verlorenen Gebiete wieder zurückholen.“ Sigrid Hiller, die mit ihm zur Brücke gekommen ist, denkt eher ans Praktische: „Ob die nicht Dummheiten machen, die Polen, ich weiß nicht. Du kannst keine Fenster mehr auflassen.“ Dann besinnt sie sich: „Muß man sich überraschen lassen, wie wir uns werden mit den Polen vertragen.“ Neunundneunzig PassantInnen zählen die Bundesgrenzschützer am ersten Tag, bis zur Mittagszeit des zweiten Tages sind es hundert. Am Bahnhof Krzewina Zgorzelecka hat inzwischen ein Zigarettenhändler seine Waren ausgebreitet, ein Textilverkäufer zimmert seinen Stand. Auf der Brücke treffen sich zumeist ältere Menschen, Bekannte. Zwei agile Damen präsentieren ihre DDR-Personalausweise. „Nach Schönfeld“ wollen sie gehen, „mal sehen, ob unser Haus noch steht.“ Seit sie 1945 ihr Dorf über die Neiße verlassen mußten, waren sie noch nicht wieder dort. Bis Krzewina sind es vom Bahnhof nur zehn Minuten zu Fuß. Das langgezogene Dorf scheint von seinen jüngeren BewohnerInnen längst verlassen. Auf dem Hügel eine schmucklose, barocke Kirche. Die deutschen Grabsteine, manche weit über hundert Jahre alt, stehen gepflegt neben den neueren, polnischen. Auf der Dorfstraße begegnen sich ein alter Mann und ein Ehepaar. Alfred Hilscher aus Ostritz war im Haus seiner Kindheit, das Ehepaar Gärtner aus Görlitz will „mal sehen, wie es hier aussieht“. Die drei tauschen Erinnerungen: „Ist das da drüben nicht Siegmunds Sägewerk gewesen?“
Alfred Hilscher kramt ein Foto heraus, es zeigt den jungen Burschen mit Familie vor dem halb fertigen Haus. 1922 war er geboren worden, auf dem Foto ist er elf. So alt wie heute der Daniel. Ihn hat Alfred Hilscher wieder einmal besucht. „Ich habe den Jungen zu mir nach Ostritz eingeladen, ist doch einfach jetzt.“ Daniels Eltern arbeiten im Kraftwerk Turow. Der alte Mann erzählt stolz, daß ihn mit dieser Familie, die heute in Hilschers Haus lebt, eine lange Freundschaft verbindet. Vier Kinder und das Haus: „Alles in Ordnung.“
Mit Daniel könne er sich nun auch unterhalten, der Junge lerne in Königshain Deutsch. Königshain in Polen, ja, der polnische Name, Dsialoszyn, lasse sich so schwer aussprechen. Das bringt der Mann wie eine Entschuldigung vor.
Beim Pfarrer von Schönfeld sei er noch gewesen, die Geburtsurkunde holen. „War alles noch da, kein Problem. Die Urkunde brauche er „für die 4.000 Mark“, die ihm als Vertriebenem zustehen. „Mal sehen, ob ich das noch erlebe“, meint er nachdenklich zu den Gärtners. „Ich habe mich mit den Polen immer sehr gut verstanden.“ Bei diesen Worten lächelt er. „Die paar Ostritzer, die gegen die Grenzöffnung unterschrieben haben, waren gestern mit die ersten, die rüber sind. Die hätte man gar nicht rüberlassen sollen.“
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