Drogenkrieg in Mexiko: Leichenteile per Post
Der Krieg unter den Drogenkartellen Mexikos wird mit einer bisher nicht bekannten Grausamkeit geführt. Das Morden übernehmen Söldner und Banden.
![](https://taz.de/picture/298918/14/Mexiko.20100831-17.jpg)
Gewalt und organisiertes Verbrechen sind wahrlich nichts Neues für die mexikanische Gesellschaft. Mafiaterror und eskalierende Drogenkriege, denen auf immer bestialischere Weise mehr und mehr Menschen zum Opfer fallen, hingegen schon: Die mexikanischen Mafias bemächtigen sich immer größerer Teile des Landes, seiner Politik, Ökonomie und des Lebensgefühls.
Waren es bis vor wenigen Jahren vor allem junge Frauen gewesen, die in der Grenzstadt Ciudad Juárez um ihr Leben fürchten mussten, so ist dieser Ausnahmezustand heute für nahezu alle Bewohner der Stadt zum Alltag geworden. Die Regierung setzt auf Militarisierung und facht dadurch den "Krieg gegen die Drogen" nur noch an.
Ob Ciudad Juárez heute "unvergleichlich viel gefährlicher als Bagdad oder Kabul" sei, wie der ehemalige Anti-Drogen-Zar der USA, Barry McCaffrey, verlauten ließ, sei dahingestellt. Wer zählt schon die Toten im Krieg? In der Wüstenstadt an der Nordgrenze Mexikos aber gibt es verlässliche Zahlen: Allein 2009 wurden im Umkreis der Stadt 2.635 Menschen im Zusammenhang mit dem sogenannten Drogenkrieg ermordet - in einer Stadt mit weniger als anderthalb Millionen Einwohnern. Und das Morden nimmt exponentiell zu: Im Vorjahr waren es "nur" 1.600, im Jahr davor gerade mal 318.
Die langjährige taz-Korreespondentin Anne Huffschmid stellt im tazcafé ihr neues Buch "Mexiko - das Land und die Freiheit" vor. Mit taz-Autor Wolf-Dieter Vogel und dem mexikanischen Journalisten Yaotzin Botello spricht sie über die brutale Eskalation des Drogenkriegs in Ciudad Juárez - aber auch über die erstaunliche Megametropole Mexiko-Stadt.
Mittwoch, 1. September 2010, 20 Uhr, tazcafé, Rudi-Dutschke-Str. 23, Berlin-Kreuzberg, Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Rotpunktverlag Zürich, Eintritt frei
Dahinter steht ein brutaler Verteilungskampf zwischen den Drogenkartellen, die sich in schnell wechselnden Allianzen die lukrativsten Plazas, die Schmuggelrouten und Umschlagplätze, streitig machen. Für Entsetzen sorgt nicht nur der rasante Anstieg, sondern auch die ungeheure Brutalisierung des Mordens. Tote werden demonstrativ an Brücken gehängt, Leichenteile mit der Post verschickt, abgeschlagene Köpfe in Diskotheken geworfen.
"Krieg" sei das falsche Wort, monieren Menschenrechtler zu Recht. Das würde klare Lager und Frontverläufe implizieren. Zutreffender ist wohl, von Ausnahmezustand zu sprechen, von einem - wenn auch nicht deklarierten - Notstand. Und von einem neuen Typus von Terror.
Woher aber kommt die exponentielle Zunahme von Macht und Gewalt der Kartelle in den letzten Jahren? Die eine Erklärung lautet Kontrollverlust, das Kollabieren der viel gerühmten politischen Stabilität Mexikos. In der Ära der langjährigen Regierungspartei PRI hatte sich seit den späten 1970er Jahren ein dichtes Geflecht zwischen Politik, Polizei und Drogengeschäft herausgebildet, in dem die politischen Machthaber und die Polizeiführung das Sagen hatten. Sie haben die Territorien zugeordnet und weitgehend die Regeln bestimmt.
Heute, nach dem Niedergang dieser Zentralmacht der PRI, gibt es keine Mediation zwischen den Interessengruppen mehr. So haben sich die Rollen neu verteilt, die Kartelle konkurrieren nun verschärft untereinander, ohne eine regulierende Instanz.
Die andere Entgrenzung: Die Kartelle agieren heute immer stärker in transnational orientierten und operierenden Netzwerken. Die territoriale Verankerung weicht einem landes- und grenzüberschreitenden Floaten.
Derzeit konkurrieren, in immer neuen Allianzen und regionalen Verteilungen, je nach Zählweise bis zu acht Kartelle um den Umschlagplatz und Transitraum Mexiko: das Sinaloa-Kartell des Chapo Guzmán, das Golf-Kartell unter dem seit 2004 einsitzenden Osiel Cárdenas (der sein Unternehmen derzeit von einem US-Gefängnis aus leitet), das Juárez-Kartell, La Familia aus Michaocán, die Gebrüder Beltrán, die Arellano-Gruppe aus Tijuana und die Zetas, die sich erst kürzlich von ihrem ehemaligen Auftraggeber, dem Golf-Kartell, unabhängig gemacht haben.
Anfang 2010 haben diese Konsortien sich zu zwei einander bekämpfenden Blöcken neu gruppiert: hier der Chapo, seit Neuestem an der Seite seines früheren Erzfeindes, des Golf-Kartells und der Familia, auf der anderen Seite das Juárez-Kartell, die Beltrán-Brüder, die Arellano und nicht zuletzt die Zetas. Lokal konzentrieren sie sich längst nicht mehr auf die Knotenpunkte Tijuana oder Ciudad Juárez an der nördlichen Grenznaht zu den USA, sondern erstrecken sich entlang der Golfküste über Veracruz bis in den Süden hinunter, am Pazifik von Sinaloa bis nach Michoacán.
Schon der Begriff Kartell sei heutzutage zu monolithisch, meint Howard Campbell, Professor für Anthropolohie an der Harvard University. Es handele sich eher um temporäre, wandelbare Bündnisse verschiedener Akteure, die jeweils ihre Auftraggeber, Financiers, Zulieferer und vor allem tausende von Helfershelfer haben. Dies sind kurzfristig angeheuerte Zuarbeiter, die nicht mehr notwendig organische Verbindungen oder gar Loyalitäten zum Kartell pflegen.
Auch beim Mordgeschäft wird immer mehr Outsourcing betrieben. Damit werden entweder dezentrale paramilitärische Banden beauftragt, die dann als eine Art Söldnerarmee fungieren, oder auch lokale Banden. An die sechshundert solcher Gangs oder "Pandillas" soll es im ganzen Lande geben, allein in Juárez mehrere hundert. Die - durch besonders blutige Mordtaten - bekanntesten sind die Aztecas oder auch Artistas Asesinos, die Killer-Künstler. ANNE HUFFSCHMID
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten