Drogen-Reha in Sierra Leone: Stadt des Ruhens
Seitdem der US-amerikanische Drogenmarkt als gesättigt gilt, missbrauchen Kartelle aus Südamerika zunehmend Westafrika als Kokaindrehscheibe für Europa.
FREETOWN taz Stephen gewöhnt sich nicht an die Kette. Das eiserne Vorhängeschloss reibt Schürfwunden in sein Fußgelenk. Dabei ist Stephen noch privilegiert. Zu Anfang des Kaltentzugs hängt an der Kette noch ein Eisenstuhl. Seit vier Monaten lebt er in dem Haus. Die hohen Mauern, die vergitterten Fenster und das verstärkte Eingangstor sollen jeglichen Einbruchsversuch vereiteln. Dabei gibt es hier nicht viel zu stehlen. Obwohl literweise Reinigungsmittel eingesetzt werden, dringt aus den Räumen im Erdgeschoss der Uringestank bis zur Straße.
Im ersten Raum des Erdgeschosses sind acht Männer untergebracht. Sie schlafen auf vier Hochbetten: keine Bettdecken, keine Laken, keine Kopfkissen - nur nackte Schaumstoffmatratzen. Hier schläft auch Stephen. Er hat sich ein Bett unten genommen. Der oben habe eine Meise, sagt Stephen. Es gibt weder Moskitonetze über den Betten noch an den kleinen Fensteröffnungen. Zurzeit kühlt der stetige Regen wenigstens noch etwas die Luft. In der nahenden Trockenzeit dürften diese Räume unerträglich stickig werden.
Warum aber die Ketten, die rund ein Viertel aller Bewohner mit sich herumschleifen? Pastor Morie Ngobeh, der Leiter des Hauses, beantwortet die Frage so: Wenn es einer trotz der anderthalb mannshohen Mauern mit Stacheldraht schaffen sollte, zu türmen, dann sei durch den Lärm der Ketten die ganze Straße alarmiert und die Anwohner könnten den Flüchtling stellen. Stephen hat schon zwei Ausbruchsversuche hinter sich. Der letzte war vor einem Monat. "Ich war auch mal in einem Drogen-Rehazentrum in Atlanta. Das hier ist im Vergleich schon schwer zu ertragen", sagt der etwa 25-Jährige, der aus Amerika vor einigen Jahren deportiert wurde. Jetzt scheint er sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben.
Mittlerweile kann Sierra Leone seine eigene Drogengeschichte schreiben. Als der verheerende Bürgerkrieg ausbrach, erreichte der Drogenmissbrauch eine neue Dimension. Das Drogenproblem vor allem unter den kämpfenden Kindern und Jugendlichen geriet außer Kontrolle. Kokain mit Schießpulver war noch harmlos. Pastor Ngobeh erfuhr von seinen ehemals kämpfenden Gästen, dass sie sich die Adern anritzten und Drogen an die Wunden klebten. Der Rausch soll dann bis zu drei Monate angehalten haben. Viele der ehemaligen Kindersoldaten kamen nie mehr von diesem Trip herunter.
Als hätte nicht der Bürgerkrieg Ende der 90er Jahre das Drogenproblem schon genug verschärft, sieht sich das kleine westafrikanische Land nun einer neuen Herausforderung gegenüber. Im vergangenen Sommer wurde ein Kleinflugzeug aufgebracht, in dem sich 700 Kilogramm reines Kokain aus Südamerika befanden. Kurz zuvor war im nahen Guinea-Bissau ebenfalls ein Flugzeug mit Kokain beschlagnahmt worden. Seither hat auch der Letzte verstanden, dass die westafrikanischen Kleinstaaten Sierra Leone, Guinea-Bissau und Guinea als Drehscheibe für den Drogenhandel dienen.
Nicht nur Kokain aus Südamerika wird hier für den Weitertransport nach Europa präpariert, sondern auch asiatische Drogen. "Wir haben alle möglichen Dinge hier: LSD, Heroin, Kokain", sagt Pastor Ngobeh. Vor Ort wird allenfalls Marihuana angebaut. "Diese Länder haben das Unglück, genau auf der Route zwischen Süd und Nord zu liegen", sagt der Chef der Vereinten Nationen in Sierra Leone, Michael von der Schulenburg. Nach Jahren einer teuren Blauhelmmission, die erst 2005 abgeschlossen wurde und zweitweise die umfangreichste der Welt war, muss Sierra Leone seine Sicherheit wieder bedroht sehen. Die südamerikanischen Drogenkartelle drängen nach Europa, weil der Markt in den Vereinigten Staaten von Amerika als gesättigt gilt. So finden sich bei Razzien in Südamerika immer häufiger Koffer voll mit Euro-Scheinen anstelle wie früher mit US-Dollar. Der europäische Markt gilt als hoch profitabel. Denn Kokain erzielt in Europa nahezu einen doppelt so hohen Straßenverkaufswert wie in Amerika.
"Wir sind völlig überfordert", sagt Francis Mono, der Vizepolizeichef in Sierra Leone. "Wir haben nicht im Geringsten die Ausrüstung und Infrastruktur, um dieser organisierten Kriminalität etwas entgegenzusetzen". Aus diesem Grunde gibt es auch noch keine Statistiken, etwa wie viel Kokain hier umgeschlagen wird, oder wie sich die Drogenabhängigkeit entwickelt. Nachdem die Drogenkuriere vom Flugzeug gefasst waren, verabschiedete das sierra-leonische Parlament ein Gesetz, um der neuen Situation gerechter zu werden. Der Transportminister des Landes kam ins Gefängnis.
Mit Hunderten Millionen Dollar kaufen die Drogenbosse nicht mehr nur einzelne Funktionäre, sondern haben das Potenzial, ganze Staaten aus den Fugen zu heben. Der Staatshaushalt von Guinea-Bissau wiegt etwa zweieinhalb Tonnen Kokain auf. Sierra Leones UNO-Chef, Michael von der Schulenburg, sagt: "Drogengelder könnten für Sierra Leone eine ähnliche Rolle spielen, wie zuvor die Blutdiamanten im Bürgerkrieg."
Die Grenze zwischen Geisteskrankheit und Drogenmissbrauch scheint sich im "Haus des Ruhens" oft zu vermischen. Nach westlichen Maßstäben ist die "City of Rest" eher eine geschlossene Anstalt als eine Drogen-Reha. Tatsächlich sieht Pastor Ngobeh einen Drogenabhängigen als einen psychisch Kranken - sowie die sierra-leonische Gesellschaft insgesamt. Man verstößt eher den Drogenabhängigen als den Drogenhändler, der allenfalls als clever angesehen wird.
Dreißig Männer und 10 Frauen leben bei Vollbelegung in der "City of Rest" im Herzen der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown an der Fort Street mit der Hausnummer 34. Seit Jahren ist das "Haus des Ruhens" voll. Denn es ist das einzige Drogen-Rehabilitationszentrum nicht nur für Sierra Leone, sondern auch für die beiden Nachbarländer Liberia und Guinea. Die Küche ist draußen auf dem Hof. Tagsüber spielt sich das meiste Treiben ebenfalls hier ab. Im zweiten Stockwerk schlafen die Frauen. Im mittleren Stockwerk befindet sich der Aufenthaltsraum, in dem ein kleiner Fernseher an der Wand hängt und Holzbänke stehen. Die Einrichtung ist spartanisch. Das hat den Vorteil, dass auch nicht viel zerstört werden kann. Im Aufenthaltsraum treffen sich Gäste mit den Betreuern zu Gebetskreisen oder Einzelgesprächen. Sieben weitere Sozialarbeiter helfen Pastor Ngobeh bei der Betreuung.
Ein mentaler Neuanfang ist die Grundidee dieser Einrichtung. "Jeder hier braucht psychische Hilfe und diese kommt durch das Wort Gottes. Wir müssen den Kranken einen neuen Geist geben, sonst kann man niemals die Abhängigkeit überwinden", sagt Pastor Ngobeh. Ganz entsprechend dem Leitmotiv des Hauses: "Das Wort Gottes ist unsere Kraft." Der Macht der Drogen stellt Pastor Ngobeh und seine Mannschaft die Macht des Betens entgegen. Die Zeit des Kaltentzugs überwindet er mit Wasser und Fürbitten für den Kranken, sagt der 73-Jährige. Auch Stephen gibt dem Beten jetzt eine Chance. Und er habe Fortschritte gemacht, sagt Pastor Ngobeh. In zwei Monaten könne er wieder draußen sein.
Mitte der 80er Jahre hatte Pastor Ngobeh angefangen, mit Drogenabhängigen zu arbeiten. Als er vor seinem Haus immer Jugendliche stehen und rauchen gesehen hatte, entschloss er sich, sie anzusprechen. Zuerst verfluchten sie den Pastor, dachten gar, er sei von der Polizei. Allmählich aber fassten sie Vertrauen und Pastor Ngobeh hatte seine Berufung gefunden. "Die Abhängigen hatten oft kein richtiges Zuhause. Wenn ich mit ihnen den Tag über gearbeitet hatte, kehrten sie abends in den Slum und die alten Verhältnisse zurück", erinnert sich Ngobeh. Also hatte er immer einige der Abhängigen in seinem privaten Haus untergebracht. Das brachte seine Ehe an den Rand des Scheiterns. Denn immer wieder haben die Abhängigen die Gastfamilie bestohlen. Als einer einen Silberlöffel, ein altes Familienstück, im Schuh versteckt mitgehen lassen wollte, hatte seine Frau Mary genug von dem Leben des barmherzigen Samariters. Nur weil die damals zehnjährige Tochter so aufmerksam war, konnte der Diebstahl vereitelt werden. Mary Ngobeh stellte ihren Ehemann vor die Wahl: "Drogen-Rehazentrum oder Ehe". Der Pastor erinnert sich, dass die Eheleute diese schwere Zeit nur durch das Einschreiten Gottes gemeinsam überstanden. Heute ist Mary die Mama für alle Gäste.
Gäste werden die Drogenabhängigen in der "City of Rest" genannt, erklärt der Pastor. Mit Spenden und Unterstützung einer Kirchengemeinde konnten sie das Haus in der Fort Street beziehen. Bis heute ist die "City of Rest" auf Zuwendungen von Außen angewiesen. Denn die Behandlung ist umsonst. Von den Familienangehörigen wird lediglich erwartet, dass sie den Kranken Essen zukommen lassen. Das Haus freut sich immer über freiwillige Helfer. Seit einem Jahr engagiert sich zum Beispiel eine Holländerin mit Kenntnissen aus der Psychiatrie dort.
Die Drogenbarone haben der Gesellschaft in Sierra Leone den Krieg erklärt. Auch wenn Pastor Ngobeh versichert, 95 Prozent seiner Gäste würden nicht mehr rückfällig und sogar Abhängige aus England kämen hierher, um sich hier therapieren zu lassen. Stephen hofft, in etwa zwei Monaten entlassen zu werden.
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