Dokumentation: „Deutsche Hauptstadt aller Spießer“?
■ Der Ticker tickt, das Faxgerät piept: Unaufhörlich trudeln kluge Stimmen zur Schließung der Staatlichen Bühnen ein
RESOLUTION:
Wir spielen weiter. Wir werden dieses Theater nicht verlassen.
Am 22. Juni 1993 wurde die Schließung der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin, der Berliner Kunsthalle, des Hauses der Kulturen der Welt und die Auflösung des Symphonie-Orchesters Berlin durch den Senat bekanntgegeben. So erhielten am selben Tag – zehn Tage vor Beginn der Sommerpause – die Mitarbeiter der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin die Mitteilung, daß das Schiller Theater, das Schloßpark-Theater und die Werkstatt zum Ende dieser Spielzeit unwiderruflich ihren Spielbetrieb einzustellen haben.
Das bedeutet die Liquidierung des größten deutschen Sprechtheaters per Handstreich durch den Berliner Senat.
Wir wehren uns gegen diesen bislang beispiellosen Gewaltakt durch die politischen Repräsentanten dieser Stadt. Die Willkür dieser Maßnahme bedroht die Existenz weiterer bundesdeutscher Bühnen. Die Vernichtung deutscher Theater, im Osten begonnen, muß gestoppt werden.
Schiller und Schloßpark-Theater haben seit 1945 Theatergeschichte geschrieben. Wir stehen in der Tradition dieses Hauses und setzen auf seine künstlerische Zukunft.
Wir fordern die Theater, alle kulturellen Institutionen und die Öffentlichkeit auf, den Senat zur Rücknahme seines Beschlusses zu zwingen.
Wir beugen uns dieser Entscheidung nicht. Die Vorstellungen und Proben gehen weiter.
Die Mitarbeiter der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin, 23. Juni
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Kulturlos, fad, bürokratisch
„(...) In einem Land, in dem es möglich ist, willkürlich Kultur zu verhindern, Kultur zu verbieten, Künstler und Kulturschaffende zu vernichten, werden künftig – noch mehr als bisher – Haß, Mord und Totschlag zum täglichen Leben gehören. Ohne uns! Man kann – dafür gibt es historische Beispiele – ein Volk vertreiben, aber nie seine Kultur vernichten! (...) Zeigen wir den ,Herren‘, die sich ständig als ,Volkes erste Repräsentanten‘ aufspielen, erneut: Wir sind das Volk! Treffen wir uns am Dienstag, dem 29. Juli, 15 Uhr vor dem Roten Rathaus. Nutzen wir die Chance zu verhindern, daß aus der Kulturhochburg Berlin eine kulturlose, fade, bürokratische ,Deutsche Hauptstadt aller Spießer‘ wird. Wir, die Mitglieder der IG Medien Berlin-Brandenburg, rufen auf, dem Willen des Volkes wieder Gehör zu verschaffen. Sabine Schöneburg
stellv. Vorsitzende IG Medien,
Landesbezirk Berlin
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Kein Applaus aus dem Osten
„Wenn nach der Entscheidung des Berliner Senats gegen das Schiller Theater und das angeschlossene Schloßpark-Theater aus der freien Kulturszene Ostberlins Applaus erwartet wird, weil es endlich einen West- und Hochkulturbetrieb getroffen habe, verweigert sich Förderverband e.V. als Träger und Interessenvertreter vieler freier Kulturinitiativen und Künstler einem solchen Selbstbetrug.“ (...) Förderverband e.V.
Kulturinitiative Berlin
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Adieu, Dinosaurier
„(...) Wie aber beerdigt man ein Theater? Und wie spart man die Gelder, die man für Theater ausgibt, ein? Die Antwort auf beide Fragen ist so zynisch wie einfach: Es geht kaum. Man müßte erst die Strukturen ändern, um Theater wirklich schließen zu können. Denn das deutsche Staats- und Stadttheatersystem hat wie fast alles in Deutschland einen strukturellen Ewigkeitscharakter – weil hierzulande alles immer gleich ,Dienst‘ ist. (...)“ FAZ
(Gerhard Stadelmaier), 24.6.
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Aufforderung zum Rücktritt
„Ich fordere das Berliner Abgeordnetenhaus auf, dem Berliner Senator für Kulturelle Angelegenheiten, Roloff-Momin, und seinem im vollem Umfang mitverantwortlichen Vorgänger Hassemer das Mißtrauen auszusprechen und sie aus ihren Ämtern zu entfernen.
Durch Dilettantismus, provinzielles Denken, Vetternwirtschaft und grobe Fahrlässigkeit haben beide Senatoren die Berliner Theaterlandschaft verunstaltet, finanziell und künstlerisch beschädigt – und wie sich jetzt herausstellt – im Grundsätzlichen zerstört. Die Liquidierung des ruhmreichen Schiller Theaters, nach der kürzlichen Schließung der Freien Volksbühne, ist bewußte Umweltzerstörung. Herrn Senator Roloff-Momin muß das Handwerk gelegt werden, bevor er mit seinem vom Zynismus geprägten Dilettantismus weitere Häuser in Berlin zu Tode plant.
Die Berliner Theaterlandschaft wird veröden, gerade zu einem Zeitpunkt, wo die größte Chance besteht, sie neu erblühen zu lassen. Berlin darf nicht Las Vegas werden! Stoppt den Theatertod in Berlin!“ Claus Peymann, 23. Juni, Wien
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Gemeinsame Verantwortung Bonns und Berlins
Dr. Irana Rusta, kulturpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, erklärt:
„(...) Die Verantwortung für diese eingetretene kulturpolitische Situation haben diejenigen, die seit Monaten den Abschluß eines Hauptstadtvertrages verzögern. Die Bundesregierung muß endlich bereit sein, Berlin als Hauptstadt zu behandeln, die nationale Bedeutung der Berliner Kultureinrichtungen zu begreifen und diese so wie in der Stadt Bonn mitzufinanzieren. (...)“
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Opfer der Olympia- und Hauptstadtmanie
„Mit diesem Beschluß verübt der Senat in der Tat ein kulturpolitisches Attentat mit verheerender Wirkung auf das kulturelle Leben der Stadt. Es ist symptomatisch für die kurzsichtige Sparpolitik dieses Senats, daß sie sich blind an den Bereichen vergreift, die keine Rendite abwerfen, egal welchen Preis die Betroffenen und die Berliner Bevölkerung dafür zu zahlen haben. (...) Symptomatisch auch, daß das Auslastungsargument ausgerechnet im kulturellen Sektor angeführt wird, verzeichnet doch auch das Hotelgewerbe zur Zeit eine relativ geringe Auslastung, der man aber in ungebrochener Hauptstadt- und Olympiaerwartung mit Kapazitätserweiterungen begegnet. (...) Bühne frei für Olympia? Ohne uns!“
Cornelia Biermann-Gräbner,
Fraktionsvorsitzende und kultur-
politische Sprecherin der
Grünen/AL, Charlottenburg
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Skrupellosigkeit
„(...) Die Berliner Nacht-und-Nebel-Aktion signalisiert uns die wachsende Skrupellosigkeit deutscher Kulturpolitiker. Wieviel schneller und einfacher werden jetzt gerade die kleinen Häuser geopfert? (...)“ Schauspiel des
Landestheaters Coburg
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Nicht rechtzeitig erkannt
„1. Berliner Senat hat die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt.
2. Aufgrund von Sparmaßnahmen sollen jetzt nach dem Willen des Berliner Senats Staatstheater ihre Türen schließen.
3. Dazu hätte es nicht kommen müssen!
4. Wenn der Senat rechtzeitig die Initiative der ehemaligen Weddinger Kommunalpolitikerin erkannt hätte (eine kontinuierliche Information des Kultursenators, des Kulturausschusses und des Finanzsenators hat stattgefunden), hätten der Staatskasse jährlich mehr als 30 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung gestanden – mehr als der Betrieb eines staatlich geförderten Theaters jährlich ausmacht.“ Rita Kurzbach, Betreiberin
der 1. Berliner Last-Minute- Theaterkasse („Karten von
heute“ im Bhf. Friedrichstraße)
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Politisch unsensibel
„ (...) Wenn in einer solchen Situation durch den Berliner Senat Privatisierungstendenzen des SSB öffentlich zur Diskussion gestellt werden, dann zieht einem das die Schuhe aus. Abgesehen von der politischen Stillosigkeit und Unsensibilität eines solchen Verfahrens frage ich mich, ob hier wirklich noch nachgedacht wird über den Schaden und die Irritation, den eine solche Debatte auslöst. Die Staatlichen Schauspielbühnen besuchen in der laufenden Spielzeit ca. 200.000 Zuschauer, deutlich mehr übrigens als etwa das Deutsche Theater. Jedermann weiß, daß wir nichts dringender brauchen als eine längerfristige und kontinuierliche Konzentration auf unsere Arbeit, um die Ausstrahlungskraft der SSB weiter zu verbessern. (...)“ Dr. Volkmar Clauß
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Solidaritätserklärung
„Über Nacht wird beschlossen, große Theater und Orchester dieser Stadt zu schließen, damit die Olympiade, die voraussichtlich nicht stattfinden wird, weiterhin mit Hunderten von Millionen bezuschußt werden kann, die Rüstungsindustrie jährlich mit 60 Milliarden subventioniert werden kann und die Steuerhinterziehungen in Milliardenhöhe ausgeglichen werden können.“ I. Bittencourt,
Künstler für den Frieden
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