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■ Dokumentation der Erklärung des SPD-Vorsitzenden Björn Engholm zu seinem Rücktritt als Kanzlerkandidat„Nie wirklich vernarbt...“

„1. In diesen Wochen ist die Erinnerung an die beispiellose Kampagne der CDU und ihres Spitzenkandidaten im Vorfeld der schleswig-holsteinischen Landtagswahl 1987 wieder wach geworden. Die Kampagne zielte darauf ab, meine und meiner Familie Integrität zu zerstören und damit einen Wahlerfolg der SPD zu verhindern. Dabei wurde auch vor kriminellen Machenschaften nicht haltgemacht.

So wurde damals von meinen politischen Kontrahenten behauptet, wir wollten

– die „Abtreibung bis zur Geburt“ freigeben,

– die Jugend „zu Haß und Klassenkampf“ erziehen,

– „Sex mit Kindern straffrei“ machen.

Meine Frau und ich wurden bespitzelt; es wurde mit einer anonymen Steueranzeige operiert, in anonymen Anrufen wurde sogar behauptet, ich hätte Aids. Das alles und vieles andere mehr ist bei mir wahrscheinlich nie wirklich vernarbt.

2. Der gegenwärtige Versuch, die SPD durch pauschale Verdächtigungen in Mißkredit zu bringen, gar zum Mittäter der damaligen Machenschaften zu stempeln, ist abwegig.

Damit wird das Ziel verfolgt, den notwendigen Regierungswechsel in Bonn zu verhindern. Das darf nicht gelingen.

Es gibt keinen Grund, die Geschichte der Barschel-Affäre umzuschreiben. Auch die privaten Zahlungen Günther Jansens an Herrn Pfeiffer rechtfertigen dies nicht.

3. Um den haltlosen Spekulationen in diesem Zusammenhang den Boden zu entziehen und dem Untersuchungsausschuß des Schleswig-Holsteinischen Landtages die Aufklärung zu erleichtern, habe ich Rechtsanwalt Peter Schulz für seine Aussagen vor dem Untersuchungsausschuß insgesamt von seiner Schweigepflicht entbunden.

Herr Schulz hat mich am sehr späten Abend des 7. September 1987 kurz über das Gespräch unterrichtet, das zuvor in Lübeck stattgefunden hatte. Ich stand in jener Nacht unter dem Eindruck des an jenem Wochenende veröffentlichten Spiegel-Artikels, in dem über schmutzige Aktionen gegen mich berichtet wurde. Innerlich war ich, erstmals in meiner politischen Laufbahn, entschlossen, alles aufzugeben. Die Tatsache, daß Aktionen gegen mich direkt aus der Spitze der Staatskanzlei gesteuert sein könnten, war für mich unvorstellbar, erschütterte mein Verständnis von Politik. Und die Wahrscheinlichkeit, daß meine Familie und ich einer schonungslosen Mischung von Intrige, Häme und Verleumdung ausgesetzt sein würden, stürzte mich in tiefe innere Konflikte.

Ich war an jenem Abend in einer existentiellen Grenzsituation: Auf der einen Seite stand die Einsicht, daß ein lebenswertes Leben und damit der Schutz der Intimsphäre angesichts perverser Formen von Politik nicht möglich ist; auf der anderen Seite stand meine Partei, die dafür kämpfte, nach 38 Jahren erstmals die Mehrheit zu erringen und deren Vertrauen ich nicht durch einen Rückzug enttäuschen durfte. Dazu mußte ich die Schmutzkampagne für mich verdrängen; ich habe sie vor der Wahl politisch nicht genutzt.

In meinen Äußerungen und Reaktionen an jenem Abend hat mich mein Anwalt als einen Menschen erlebt, der sich durch die vorangegangenen Geschehnisse in einer Ausnahmesituation befand. Der dadurch sehr intime Charakter des Gesprächs ließ es mir gerechtfertigt erscheinen, meinen Anwalt nicht von der Schweigepflicht zu entbinden. Das Recht auf Privatheit, die Chance, schwerste Belastungssituationen ausschließlich für mich allein zu behalten, war und ist für mich eine unabdingbare Lebensvoraussetzung.

Den Untersuchungsausschuß von dem Anwaltgespräch nicht unterrichtet zu haben war ein Fehler, der mich bedrückt und für den ich das Parlament um Entschuldigung und die Öffentlichkeit um Verständnis bitte.

4. Wegen dieses Vorgangs ist meine politische Glaubwürdigkeit in Frage gestellt worden, auf die viele Menschen in Schleswig-Holstein, in der ganzen Bundesrepublik und insbesondere in meiner Partei gebaut haben.

Ohne dieses Vertrauenskapital könnte ich weder mein Land Schleswig-Holstein noch meine Partei mit derselben Unbefangenheit und dem gleichen Erfolg vertreten wie bisher.

Zugleich sind meine Familie und ich es leid, Veröffentlichungen ausgesetzt zu sein, die nicht mehr davor zurückschrecken, erneut das Privatleben auszuforschen und zu vermarkten.

Ich habe meinem Land fast 24 Jahre in vielen unterschiedlichen Bereichen gedient: als Ausschußmitglied der Lübecker Bürgerschaft, als Bundestagsabgeordneter, als Parlamentarischer Staatssekretär und Minister, als Oppositionsführer und Ministerpräsident. Das ist mehr, als den meisten vergönnt ist.

Im Bewußtsein der getanen Arbeit und in der Absicht, mein Land und meine Partei davor zu bewahren, mit meinem politischen Fehler identifiziert zu werden, gebe ich mein Amt als Ministerpräsident und meine Funktionen in der SPD auf.

5. Ich weiß, daß meine Partei vor schwierigen Zeiten steht, die unseren Mitgliedern Mut, Stehvermögen und Solidarität abverlangen. Es lohnt sich, für diese Partei zu arbeiten, der ich seit über 30 Jahren angehöre. Ich wünsche der SPD einen glücklichen personellen Neubeginn. Loyalität zur großen Idee, Beweglichkeit auf neuen Wegen, Gemeinschaftsgeist und Disziplin sind wichtige Voraussetzungen für den Weg zum Erfolg.

Je leidenschaftlicher die SPD dabei für die Interessen der arbeitenden Menschen eintritt, je überzeugender sie auch mit den Gewerkschaften für Gerechtigkeit und Solidarität, für wirtschaftliche Innovation und neue Arbeit kämpft, je mutiger sie ökologische Reformen voranbringt, desto eher wird sie Erfolg haben.

6. Schleswig-Holstein, für das ich fünf Jahre als Oppositionsführer und weitere fünf Jahre als Ministerpräsident tätig sein durfte, hat schwierige Jahre vor sich. Die Einheit der Deutschen und die Vereinigung Europas erfordern Umdenken und enorme Anstrengungen auch in unserem Land.

Dafür haben wir in den letzten Jahren ein solides wirtschaftliches, soziales und ökologisches Fundament gelegt. Unsere Arbeit seit 1988 kann sich sehen lassen.

Die Bereitschaft der wichtigen gesellschaftlichen Gruppen, unser Land gemeinsam voranzubringen, hat dabei enorm geholfen. In diesem Geist wird Schleswig-Holstein eine gute Zukunft haben.“ (AP)

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