: „Die da oben spinnen!“
betr.: „Metaller-Streikfront droht die Spaltung“ und „Endlich auch mal gewonnen“, taz vom 18. 6. 03
Der 17. Juni 2003 hat etwas von Orwell’scher Geschichtsumschreibung. Zur selben Zeit, wo sich die herrschende Politikerklasse und die oberen 10.000 anschicken, täglich den sozialen Kahlschlag zu predigen und sich förmlich in einen Idenwettbewerb der sozialen Grausamkeiten begeben haben, feiert genau diese Elite die soziale Arbeiterrevolte von 1953 – als handele es sich um die deutsche bürgerliche Revolution. Die BRD feiert fröhliche Urständ und merkt gar nicht, wie dicht die Geschichte auf das aktuelle Geschehen passen könnte.
Aber nein, die soziale Kälte der Herrschenden und der Frust der einfachen unteren Bevölkerungsschichten von heute sind natürlich demokratisch und da dürfen keine Steine fliegen, kein Minesterien brennen und 10.000-fach die Arbeit niedergelegt werden. Das schadet ja der Wirtschaft und vernichtet Arbeitsplätze. Die systemimanenten Widersprüche werden ausgeblendet und weiter verschärft. Das Volk schaut in die Röhre und lässt sich verblöden und fängt an sich zu entsolidarisieren. Die Angstmache der Manager und PolitikerInnen aller Richtungen vor Arbeitszeitverkürzungen, Lohnerhöhungen etc. sind nichts anderes als massive Einschüchterungsversuche und das Mittel zur Durchsetzung von kapitaler Umverteilung. Wir werden dabei nicht gefragt.
Ein Herr Clement scheut sich nicht nach längeren Arbeitszeiten zu schreien und gleich noch ein paar Feiertage und Urlaubstage abschaffen zu wollen. Die DDR-Stalinisten hatten mal eben die Arbeitsnorm ohne Lohnerhöhung um 10 Prozent erhöht. Sprich, die Ausbeutung ohne Ausgleich um 10 Prozent gesteigert. Was heute passiert, ist eigentlich nichts anderes. Wir sollen die Sozialleistungen allein tragen, jeden noch so bescheuerten und gering bezahlten Job machen – und uns täglich peitschen für die Forderung nach mehr Gerechtigkeit. „Die da oben spinnen“ – hieß es 1953 und heute würde ich sagen: „Die da oben sind so dreist und vom Volk so entfernt, dass mir schlecht wird“. […]
TINO KRETSCHMANN, Diakon, Ex-DDRler
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