■ Die anderen: "Westdeutsche Allgemeine Zeitung", "Nürnberger Nachrichten" zum Thema Rot-Grün und die Gerechtigkeit / "Lübecker Nachrichten" zum Wirtschaftsminister Müller
Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ meint, daß Rot-Grün die Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren darf: Fairneß muß dabei der Begleiter sein. Daran jedoch lassen es die Sozialdemokraten, die sich stets als Hüter der sozialen Gerechtigkeit verstanden, derzeit fehlen. 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigen-Regelung, Einschnitte bei der Rente – die Auswirkungen treffen vor allem den kleinen Mann. Die andere Seite aber – eine echte Steuerreform mit konsequentem Abbau von Subventionen – läßt weiter auf sich warten. Nur wenn Rot-Grün diesen Kraftakt gegen den Widerstand der Lobbyisten anpackt, kann das Bündnis auch glaubwürdig und sorgsam den sozialen Gürtel der Bürger enger schnallen. Wenn nicht, setzt die Regierung das Vertrauen in das Sozialsystem mutwillig aufs Spiel.
Die „Nürnberger Nachrichten“ kommentieren: Auf den ersten Blick erleben wir eine verdrehte Politikwelt: Da predigen Sozialdemokraten, die doch nach einer sich hartnäckig haltenden Legende „nicht mit Geld umgehen können“, eisernes Sparen und setzen den Rotstift dabei auch bei Arbeitslosen oder Rentnern an – und da zeigt sich CSU-Chef Stoiber zugleich besorgt darüber, daß die SPD die soziale Gerechtigkeit aus den Augen verliere. Was der CSU-Chef aber ausblendet: Die Union hat mit den Liberalen noch weitaus einseitiger bei eben jenen „kleinen Leuten“ gespart, zu deren Fürsprecher sie sich nun macht. Beispiele? Gekürzte Lohnfortzahlung für Kranke, Renten-Schnitte, immer neue Kürzungen bei Arbeitslosen – und parallel dazu Entlastungen für Gutverdienende mit der Folge drastisch sinkender Einkommenssteuern.
Die „Lübecker Nachrichten“ loben Wirtschaftsminister Müller: Ein Staat, der sich nicht rechtzeitig den Veränderungen in der Gesellschaft anpaßt, bringt sich selbst an den Rand des Ruins. Und die deutsche Gesellschaft der 90er Jahre ist eine andere als die von 1970. Das weiß auch die Mehrheit der Bundesbürger. Also hat Müller mit seiner Forderung nach einem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik und einer grundsätzlichen Neubesinnung über die Rolle des Sozialstaates im Kern eine Binsenweisheit verkündet. Wenn die Gewerkschaften jetzt laut aufschreien, zeigt das, daß sie sich im Kern ihres Selbstverständnisses getroffen fühlen. Sie wollen eine führende Rolle spielen, wenn es um den Umbau der Sozial- und Tarifpolitik geht. Das ist auch ihr gutes Recht. Schröder muß nun Müllers Denkanstöße in eine fruchtbare Diskussion überleiten.
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