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■ Die amerikanische GesundheitsreformDéjà vu

Das volle Haus, die feierliche Stimmung, die Spannung, die sich in grenzenlosem Jubel löst, als der Redner des Abends angekündigt wird: „Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten!“ Wie bei der Vorstellung seiner Haushalts- und Wirtschaftspolitik ist es auch dieses Mal ein mit Spannung erwartetes politisches Ereignis, großes Staatstheater. Clintons Auftritt vergangene Woche vor den beiden Häusern des Kongresses wirkt wie ein zweiter Bericht zur Lage der Nation, ein erneuter Appell an die Bevölkerung, eine große Reform ins Werk zu setzen. Und erneut signalisieren die Meinungsumfragen, die AmerikanerInnen seien bereit, Opfer auf sich zu nehmen und – horribile dictu – höhere Steuern zu zahlen.

„Amerika, du hast es besser.“ Aber Goethe kannte Bismarck noch nicht, sonst hätte er das vielleicht nicht gesagt. Was Bismarck in Deutschland schuf und was inzwischen im industrialisierten Teil der Alten Welt seit gut hundert Jahren geradezu zur Grundausstattung von Lebensqualität gehört – eine allgemeine, jedem zugängliche Krankenversicherung –, gibt es in Amerika nicht. Die Folgen für das amerikanische Gemeinwesen sind verheerend. 37 Millionen Amerikaner haben überhaupt keine Krankenversicherung. Eine Krankheit bringt jährlich Millionen um all ihre Ersparnisse. Weitere 20 Millionen Amerikaner sind nur unzureichend versichert. Für Millionen stellt sich jeden Tag die Frage, ob sie ihr Geld für teure Medikamente oder fürs Essen, für die Miete oder ärztliche Behandlung ausgeben sollen. Jeden Monat verlieren zwei Millionen Amerikaner ihren Krankenversicherungsschutz durch Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzwechsel, Umzug oder die Unfähigkeit ihres Arbeitgebers, weiterhin die ständig steigenden Krankenversicherungsbeiträge aufzubringen.

Und dabei leistet sich das Land das teuerste Gesundheitswesen der Welt. Vierzehn Prozent des amerikanischen Bruttoinlandprodukts gehen für die Kosten medizinischer Versorgung drauf, im Jahr 2000 werden es neunzehn Prozent sein. In Deutschland sind es gerade einmal neun Prozent. Das hat Auswirkungen auf Amerikas maroden Staatshaushalt. In seiner Rede prophezeite Clinton den Abgeordneten, sie würden bald nichts anderes zu tun haben, als Schecks für Zins und Tilgung des Haushaltsdefizits und für Medicaid bzw. Medicare auszustellen. Der am schnellsten wachsende Posten in Amerikas defizitärem Haushalt sind nämlich die Kosten für jene beiden Programme, die für die Arztrechnungen der Armen und Alten aufkommen.

Das alles aber hat vor allem Auswirkungen auf den moralischen Haushalt der Nation. In der Debatte um die Gesundheitsreform geht es wie in jeder großen Debatte in Amerika um das Verhältnis von individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung.

Schlechtes Timing! Könnte man mit Blick auf die welthistorische Uhr sagen. Die Ironie der Geschichte will es nämlich, daß Amerika mit der Einführung einer den Deutschen so selbstverständlichen Errungenschaft just zu einem Zeitpunkt beginnt, da Deutschland sich die Frage stellt, ob es sich angesichts der Kostenexplosion die allgemeine Krankenversicherung in dieser Form noch leisten kann.

Am Ende aber ist es gar eine Sternstunde der Geschichte, daß die Krise des staatsfeindlichen Individualismus der Amerikaner, die im maroden Gesundheitswesen ihren deutlichsten Ausdruck findet, mit der des europäischen Sozialstaates zusammenfällt. Reinventing Government lautet, auf eine kurze Formel gebracht, Clintons Programm. Und sein Entwurf eines Krankenversicherungssystems ist der Versuch, den Sozialstaat neu zu definieren, der Versuch, Marktmechanismen mit staatlicher Regulierung so aufeinander abzustimmen, daß kollektive Sicherheit mit individueller Verantwortlichkeit, Ausweitung von Leistung mit Kostendämpfung zusammenfallen. Der Plan ist gut, vielleicht sogar epochal. Er ist die Neuerfindung der allgemeinen Krankenversicherung unter den gewandelten Bedingungen moderner Industriegesellschaften.

Amerika, hast du es besser? Bisher ist noch nicht einmal ausgemacht, ob Clintons Versuch überhaupt eine Chance hat. Deutschland, du hast es doch besser, möchte man angesichts der bevorstehenden Schlacht um Clintons Gesundheitsreform im amerikanischen Kongreß sagen. Eigentlich müßte Seehofer mit seinen Reformplänen leichte Hand haben. Im bundesrepublikanischen Parlament jedenfalls gibt es solide und berechenbare Mehrheiten. Fraktionsdisziplin ist auch eine Form von politischer und moralischer Arbeitsdisziplin. Dagegen besteht der amerikanische Kongreß aus 535 Individuen, die letztlich keiner Partei, keiner Idee, keinem Ideal und keinem anderen Interesse als dem ihrer Wiederwahl verpflichtet sind. „Der legislative Prozeß ist kein schöner Anblick“, hatte Leon Panetta, Amerikas Finanzminister, im Frühjahr gesagt, als Clintons Haushaltsreform im Senat zerpflückt, auseinandergerissen und Stück für Stück den Sonderinteressen jener Klientel geopfert wurde, deren Wahlkampfspenden die Senatoren ihre Wiederwahl schulden.

Das amerikanische Parlament ist das mächtigste und zugleich käuflichste der Welt! Auch unmittelbar nach der Rede zur Lage der Nation war die Stimmung positiv gewesen, durch das Land schien ein Ruck zu gehen. Doch der anfängliche Enthusiasmus verflog, und die Opferbereitschaft wich jener typisch amerikanischen Skepsis aller staatlichen Lenkung der Gesellschaft gegenüber. Und mündete dann endgültig in Zynismus und traditioneller amerikanischer Parteien- und Politikverdrossenheit, als sich zeigte, daß Farmlobby, Aluminium- und Ölindustrie den längeren Atem hatten. Wo in Deutschland also alles seinen parlamentarischen Gang gehen könnte, fehlt der Mut zu Visionen und konzeptionellen Neuanfängen. In Amerika hingegen scheitern wirkliche Reformen an den Partikularinteressen des Parlaments.

Was am Ende vom US-Kongreß verabschiedet wird, wenn denn überhaupt etwas verabschiedet wird, mag wenig Ähnlichkeit mit der von Clinton eingebrachten Gesetzesvorlage haben. Clintons Krankenkassenreform droht das Schicksal seiner Energiesteuer. Trotz Zustimmung ist die Stimmung in der Gesellschaft nicht gut. Das Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung, Probleme zu lösen, ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Staatsfeindliche Ressentiments sind leicht entflammbar, und die Vertreter von Sonderinteressen stehen bereit, das Paket aufzuschnüren.

Clinton hat sich viel vorgenommen. Der Versuch, etwas durchzusetzen, was anderen Staaten eine Selbstverständlichkeit ist, gerät in Amerika zum Drahtseilakt. Es geht um viel: nämlich noch immer darum, Amerika aus einer Gesellschaft der Pioniere in ein modernes Gemeinwesen zu verwandeln. Letztlich aber geht es um die Regierbarkeit des Landes und die Zukunft der amerikanischen Demokratie. Reed Stillwater

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