Die Zukunft der SPD: Vorwärts, Genossenschwund
Die SPD verliert dramatisch Mitglieder. Bald wird die CDU mehr Anhänger mit Parteibuch haben als die Sozialdemokraten. Die Krise der Partei reicht tiefer als Beck.
Vielleicht passiert es heute, vielleicht in einer Woche. Dann wird die SPD nicht mehr die größte Partei Deutschlands sein. Dann hat zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die CDU mehr Mitglieder. Vor drei Wochen gab es noch 532.840 Sozialdemokraten, 495 Genossen mehr, als es CDU-Mitglieder gibt. Im Vergleich zu den Konservativen verliert die Partei rund 500 Mitglieder pro Monat mehr. Vor allem seit Schröder der Partei vor fünf Jahren die Agenda 2010 verordnete, häuften sich bei den Sozialdemokraten die Austritte. Fast die Hälfte der Genossen ist zudem älter als sechzig Jahre. Zwanzig Prozent der Ortsvereine der SPD haben in den letzten Jahren kein neues Mitglied aufgenommen. Früher war die SPD die Partei der Lehrer, heute ist sie die Partei der alten Lehrer, könnte man sagen. Auch dieser Kalauer ist schon zehn Jahre alt.
Diese personelle Auszehrung trifft nicht nur die SPD. Die Volksparteien verlieren fast überall in Westeuropa Mitglieder. Die Bindekraft von Großorganisationen, von Kirchen bis Gewerkschaften, schwindet in individualisierten, postmodernen Gesellschaften.
Doch der unaufhaltsame Mitgliederschwund trifft die SPD härter als die Konkurrenz. Für Christdemokraten, die erst in den 70er-Jahren zur Massenpartei wurden, ist die Partei nicht so wichtig: Hauptsache, man regiert. Bei der SPD ist das anders. Die Partei war immer mehr als eine Zweckgemeinschaft. Sie hatte eine Botschaft. Sie verstand sich immer als "Schutzmacht der kleinen Leute". Doch seit Hartz IV und der berüchtigten Agenda-Politik weiß sie nicht mehr, ob sie das noch ist. Oder was sie anstelle dessen sein soll.
Ein Grund für den Genossenschwund - und ebenfalls ein Erbe der Schröder-Ära - ist die Schwäche der SPD in Ländern und Kommunen. Die SPD regiert seit zehn Jahren im Bund, doch ihr Machtfundament in der Republik bröckelt. Sie ist in den bevölkerungsreichen Flächenländer, von Niedersachsen über Nordrhein-Westfalen bis Hessen, in der Opposition. Und sie hat auch in Großstädten, die lange Hochburgen waren, etwa Hamburg oder Frankfurt, verloren. Heute regiert dort Schwarz-Grün. Ein solcher Machtverlust in Ländern und Kommunen gab es noch nie. Deshalb fehlt der SPD die natürliche Attraktivität, die Regierungsparteien ausstrahlen.
Die Schwäche der SPD in den Ländern ist auch der wesentliche Grund für das knappe Führungspersonal. In der SPD galt fast immer der Grundsatz, dass, wer Wahlen in den Bundesländern gewinnt und dort Regierungserfahrung sammelt, sich für Höheres qualifiziert. Das klingt etwas starr. Doch dieser Mechanismus hat sich als rationales Auswahlverfahren bewährt. 2008 aber stellt die SPD nur noch in Bremen, Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern den Ministerpräsidenten. Kurt Beck war als SPD-Chef schon das letzte Aufgebot. Die SPD wirkt derzeit wie eine Art Symptomträger. Eigentlich sind beide Volksparteien krank. Beide verlieren Wähler, Mitglieder und Gestaltungsmacht.
Auch die Identität der Union ist unscharf. Wer von Christdemokraten wissen will, was 2008 konservativ heißt, bekommt entweder sehr viele Antworten oder gar keine. Doch als Drama stellt sich dieses diffuse Selbstbild nur bei der SPD dar. Sie wirkt fundamental verunsichert, weil sie nicht weiß, ob sie den von Schröder durchexerzierten wirtschaftsliberalen Kurs will oder ob sie zu ihrer Rolle als Anwalt der kleinen Leute zurückkehrt. Und eine Idee, um beides zu verbinden, fehlt.
Dies versucht das Thesenpapier "Aufstieg und Gerechtigkeit", das SPD-Generalsekretär Hubertus Heil kurz vor dem Zukunftskonvent in Nürnberg entwarf. Die Schlüsselbegriffe lauten Chancengleichheit und individueller Aufstieg. Das erinnert allerdings stark an Schröders Slogan "Innovation und Gerechtigkeit", der ein leeres Versprechen blieb und umgehend entsorgt wurde. Die Identitätslücke der SPD lässt sich so kaum schließen. Und das ist der Kern der SPD-Krise. Alles andere sind Folgen. Etwa der Kampf aller gegen alle, der in Partei und Bundestagsfraktion herrscht. Oder ihr wankelmütiges Verhältnis zur Linkspartei, in der die SPD wie eine Getriebene wirkt.
Die SPD weiß nicht, wohin sie will. Kurt Beck soll es ihr heute auf dem Zukunftskonvent in Nürnberg sagen. 3.000 SPD-Funktionäre werden dort sein. Es gibt nicht viele, die glauben, dass das gelingt.
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