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Die Zivilisation kippt schnell

Im frommen Oberschwaben soll es nicht ganz so schlimm gewesen sein mit dem Nationalsozialismus, heißt es. Wegen der Kirchen. Der Regionalhistoriker Ludwig Zimmermann entlarvt diese Erzählung als Legende. Auch hier haben die Menschen ihre christliche Sozialisation schnell verraten.

Biberach, Marktplatz am 11. Juni 1939: Beim Oberschwabentag führte die NSDAP vor, auf wie viele Menschen sie sich stützen konnte. Fotos: aus dem Buch „Das katholische Oberschwaben im Nationalsozialismus“, Eppe Verlag

Von Wolfram Frommlet↓

Ludwig Zimmermann, Jahrgang 1938, katholisch, Lehrer, Gemeinderat, jahrzehntelang Mitglied der CDU, ist ein Bewahrer der christlichen Werte, die ihn prägten und um die es in schmerzhaften, in oft sehr persönlichen Konfrontationen und extrem detailreichen Auseinandersetzungen geht. Er ist kein Historiker, der mit wissenschaftlicher Distanz schreibt, sondern mit der ganz eigenen Note empirischer Akribie und aus persönlicher Leidenschaft. In diesem Wort steckt das, was in einem wissenschaftlichen Ansatz verpönt wäre: Leiden – an den Verletzungen seiner Werte, an dem, was der Faschismus anrichtete. Nicht abstrakt, weit weg, sondern in Oberschwaben, das seine Heimat war und, wenngleich aufs Schrecklichste missbraucht, immer sein wird.

Das Dorf, das Land zuvorderst. Die Wurzeln gehen zurück in die frühe Kindheit, in die Dorfwirtschaft im schwäbischen Baustetten, die die Mutter nach dem frühen Tod des Vaters führte. Als in der Pogromnacht ein SA-Trupp in der Wirtschaft auftauchte, warf die katholisch überzeugte Mutter sie raus, denn sie hatten den Brandgeruch der Synagoge im nahen Laupheim an sich. Die gott­ergeben fromme Großmutter weigerte sich, das „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“ anzuheften. Diese aufrechte Gesinnung wurde am Biertisch verklärt, „bei uns im katholisch geprägten Oberschwaben sei es nicht ganz so schlimm gewesen mit dem Nationalsozialismus und Schlimmeres verhindert worden“, erinnert sich Zimmermann.

Der erste Riss kam während der Schulzeit, als er „in Mutters Geheimablage im Tresor“ ein Foto entdeckte, auf dem der Vater und sein Bruder in strammen SA-Uniformen mit Mutter und Tante neben einem Sportwagen standen. Notgedrungen die ersten, ihn prägenden Bekenntnisse der Mutter: Ja, sie waren zum Reichsparteitag nach Nürnberg gefahren. In der Lehrerausbildung stand der Faschismus nicht im Lehrplan. Ein Studienrat aber, der bis 1945 im Widerstand gewesen war, vermittelte den Grundstein für Ludwig Zimmermanns spätere Arbeitsweise: Oral History, wie man dies heute nennt, erzählte Geschichte, Geschichte von unten zu nutzen, Kriegsteilnehmer zu befragen.

Das Schlüsselerlebnis kam 1981. Er besuchte Auschwitz, wo er an der „Schwarzen Wand“ von Pater Maximilian Kolbe hörte, der sein Leben opferte für einen anderen, wo er vom Gestapochef Wilhelm Boger aus Friedrichshafen erfuhr, der an dieser Wand Genickschüsse ausführte und die tödliche „Bogerschaukel“ erfand. Das ließ ihn nicht mehr los. Den letzten Anstoß, das Vergessene, das Verdrängte in seiner oberschwäbischen Heimat aufzudecken, war 1996 Bundespräsident Roman Herzog mit seiner Forderung, „in einer neuen Erinnerungskultur den Opfern ihre Würde wiederzugeben“. Zimmermann gibt Hunderten von Opfern, Tätern und Widerständlern in Oberschwaben auch einen Namen.

Schnittmenge Kirche und Nationalsozialismus

Im Jubiläumsjahr „500 Jahre Reforma­tion“, 2017, musste man in evangelischen Kirchen Oberschwabens Veranstaltungen zu Martin Luthers glühendem Antisemitismus und den Auswirkungen bis in das Nazi-Regime mit der Lupe suchen. Ein bis heute verdrängtes Thema. Damit beginnt Zimmermanns Buch, mit erschreckenden historischen Fotos. Da reckt 1932 in Wittenberg, inmitten einer salutierenden SA-Mannschaft, der evangelische Reichsbischof Müller im Talar den Arm zum Hitlergruß, auf der Flagge der DC, der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, vereinen sich Hakenkreuz und christliches Kreuz. Zimmermanns Quellen belegen, dass diese evangelische „Erneuerungsbewegung“ mit ihrem Antisemitismus im Nationalsozialismus „die Vollendung der deutschen Reformation im Geiste Martin Luthers“ sah und dass auch führende protestantische Theologen wie Otto Dibelius und Theophil Wurm anfangs die Ansicht vertraten, „dass dem allenthalben übermäßigen Einfluss des Judentums Einhalt geboten werden müsse“.

Die im April 1934 gegründete „Bekennende Kirche“ mit der „Barmer Theologischen Erklärung“ erwähnt Zimmermann nicht. Sie grenzte sich ab von Hitlers und Rosenbergs Erklärung des „positiven Christentums“ zur „Volksreligion aller Deutschen“, hatte aber wenig Einfluss auf die rechten Kreise der evangelischen Kirchen. Große Teile der bekennenden Christen blieben dem „Führerstaat“ treu und bejahten den Zweiten Weltkrieg. Immer häufiger fanden beide Kirchen schon früh „eine gemeinsame Schnittmenge“ mit dem Nationalsozialismus: Der Gegner stand links – die SPD, die KPD. So wetterten auf dem Biberacher Katholikentag 1931 unter dem Motto „Kampf gegen die Gottlosenbewegung“ die Redner „gegen Kommunismus und Bolschewismus, nicht aber gegen den Nationalsozialismus“. Und als schon vor 1933 die jüdischen Geschäftsleute in oberschwäbischen Kleinstädten wie Laupheim oder Wurzach als „Brunnenvergifter, Hostienschänder und Christusmörder“ denunziert wurden, findet Zimmermann keinen regionalen Widerspruch unter katholischen Pfarrern in Oberschwaben.

Verrat an den bürgerlichen, den christlichen Werten

Nun findet mit rasender Geschwindigkeit ein sozial-psychologisches, ein kulturelles Phänomen statt, das Zimmermann in empirischer Vielfalt beschreibt und das erschreckende Parallelen in autokratischen Regimen wie Ungarn, Polen oder Tschechien, in den rechtsradikalen Bewegungen in Frankreich und den USA hat und erst ansatzweise in seinen Gründen in den Sozialwissenschaften analysiert wird: Das bürgerliche, liberale, nationalliberale Milieu vorwiegend evangelischer Provenienz, die bäuerliche Mittelschicht, die Großbauern, Akademiker (die dann besonders stark in der SS vertreten waren) ebenso wie katholisches Kleinbauerntum und Handwerker, verraten ihre christliche Sozialisation, ihre von Aufklärung geprägte Bildung – gesellschaftsübergreifend.

Das katholische Dorf Ochsenhausen wandelt sich in Jahresfrist zu einem natio­nal­sozialistischen Hotspot, und am Humanistischen Spohn-Gymnasium Ra­vens­burg führte der aus bäuerlich-katholischen Verhältnissen stammende Oberstudiendirektor Max Luib mit Haken­kreuz am Ärmel den faschistisch-orientierten „Weltanschaulichen Unterricht“ ein. Jüdischen Schülern verwehrte er das Abitur. Im Januar 1934 erklärten die Vertreter der Dekanate Ehingen, Laupheim, Reutlingen, Ulm und Zwiefalten in einer Resolution: „Wir wünschen im Sinne des Reichskonkordats möglichst bald in ein offenes, aufrichtiges Freundschaftsverhältnis mit dem neuen Staat zu kommen, schon um unseres katholischen Volkes willen …“.

Die Nazi-Ideologie gibt sich „volksnah“, national-identitär, und bedient zugleich das „Bildungsbürgertum“ wie heute der intellektuell brillante Eric Zemmour in Frankreich. Die NSDAP absorbiert die ökonomischen Probleme des Prekariats, des kriselnden Mittelstandes. Sie sehen in ihr die „Anwälte der Unzufriedenen“; ihre vordergründigen Werte ähneln denen von katholischen Jugendverbänden wie der „Sturmschar“ oder denen der DJK, der „Deutschen Jugendkraft“: „Kameradschaft, Geselligkeit, Körperbewusstsein, Naturverbundenheit“ und der Stolz auf die neue „deutsche Identität“ – „Die Schmach ist vorbei. Deutschland ist frei“.

Die führende Figur des kirchlichen Wider­stands ist Bischof Joannes Battista Sproll (1870 bis 1949), der unter dem Motto „Furchtlos und treu“ mit dem Ziel „Kampf gegen die Lehren des Nationalsozialismus“ in Oberschwaben Bischofs- und Jugendtage initiiert. Bis zu 25.000 Jugendliche und Erwachsene in Biberach, Ravensburg und Weingartennehmen nehmen teil, 12.000 in der Klosterkirche in Wiblingen, eine machtvolle Demon­stration mit einem nächtlichen „Flammenmarsch“ durch Ulm unter dem Motto „Katholische Jugend im Dunkel der Zeit“. Sproll lebte, von der Kirchenleitung der Diözese Rottenburg alleine gelassen, etwas damals Neues vor: eine politische Theologie, die die Herrschenden vor Zigtausenden öffentlich angriff, in der die Nazi-Ideologie als „gefährlicher Irrtum“ und als „Todfeind des Christentums“ angeprangert wurde. Und es waren Christen, die ihn als „Volksverräter“ beschimpften, die forderten: „Hängt ihn an den Galgen“.

Die Kirchenleitung lässt Bischof Sproll alleine

Sproll wurde zum Ermutiger für viele Dutzend Priester und Pfarrer in Oberschwaben, die Widerstand leisteten gegen die „Grauen Busse“ der Euthanasie in Grafeneck, gegen Zwangssterilisationen wie in Ravensburg (wie Zimmermann schon als Kind am Beispiel einer Tante „hinter vorgehaltener Hand“ erfuhr). Auch ihnen gibt der Lokalhistoriker einen Namen: Auf zwei Buchseiten listet er Stadt- und Gemeindepfarrer, Ordenspriester und Ordensschwestern auf, die in Gestapo-Haft für Monate, für Jahre in Gefängnisse, Zuchthäuser oder in das KZ Heuberg kamen. Einsam wurde es um die meisten, als die Synagogen brannten in Orten wie Laupheim, Buchau oder Ehingen, als die jüdischen Geschäfte geplündert wurden, in denen die christlichen Mitbürger ge­stern noch ihre Kinder einkleideten, als die wenigen vermögenden Juden sich ihre Flucht nach Lateinamerika, nach England oder in die USA von den Gemeinden zu Wucherpreisen „erkaufen“ durften und die Mehrheit der Juden, in Ravensburg auch die Sinti (Mitglieder der katholischen St. Jodok Gemeinde) nach Theresien­stadt und Auschwitz transportiert und dort ermordet wurden.

Bei seinen Recherchen fand Zimmermann auch heute noch in kirchlichen Archiven Abwiegelung, Ausflüchte und nicht selten verschlossene Türen – so in der ­Diözese Rottenburg, wenn es etwa um die fehlende Unterstützung von Bischof Sproll geht. Zimmermann zitiert Bischof Georg Moser 1988, als er in Biberach bei einer Feier zum 50. Jahrestag Sprolls sagte: „So lange der Neckar durch Rottenburg fließen wird, so lange wird der die Schande nicht hinunterspülen können, die man damals dem Bekennerbischof Joannes Battista Sproll angetan hat.“ Ernüchternd, nicht ohne Leiden, ohne Wut und Empörung geschrieben, das Schlusskapitel über die Entnazifizierung. Fast keiner der Täter (die männliche Form überwiegt) wurde verurteilt, auch nicht die meisten der Euthanasie-Mediziner. Oft wurden die alten die neuen Funktionäre und Beamten. Er weiß, dass bei dieser „Politik“ das christliche C eine entscheidende Rolle spielte, beginnend mit Konrad Adenauers „Entnazifizierung“ von führenden Nazis wie Hans Globke, Reinhard Gehlen oder Theodor Oberländer.

Noch heute bleiben Türen in Oberschwaben zu

Ludwig Zimmermanns Buch ist eine verdienstvolle, detailreiche und erkenntnisreiche Arbeit zur Erinnerungskultur, vor allem in dem so sensiblen Bereich der Kirchen im deutschen Nationalsozia­lismus. Es gibt viele Antworten darauf, warum Christen in krisenhaften Zeiten ihre Werte ablegten und einer tödlichen Ideologie aufsaßen. Doch dieses Buch provoziert, beispielhaft für andere Themen, auch Fragen, denn Erinnerungskultur heißt auch, aus dem Vergangenen zu lernen für das Heute. Wie fragil sind Werte, wie schnell kippt „Zivilisation“ in Inhumanität? Wie fragil ist „Bildung“?

Es waren hochgebildete Menschen, die sich die Bestialitäten des deutschen Faschismus ausdachten, die dessen Waffen entwickelten, die Propaganda-Medien schrieben, die Propaganda-Filme drehten. Wofür verkauft die neue technische Intelligenz, die Neo-Bourgeoisie heute alle kulturellen Werte? Bischof Joannes Baptista Sproll soll seliggesprochen werden. Ist damit der Widerstand der katholischen Kirche gegen den Faschismus erledigt? Welche menschenverachtenden, die Schöpfung zerstörende Ideologien müssten die Kirchen heute, im Geiste Sprolls, als „gefährlichen Irrtum“ anprangern? Was überwiegt global – Anpassung oder Widerstand?

Wer sind die Sprolls heute, die von den Amtskirchen, wie Zimmermann dies formuliert, „im Regen stehen gelassen“ werden? Die „Theologie der Befreiung“ von Ivan Illich, Paulo Freire, Augusto Boal, Dom Hélder Câmara und Ernesto Cardenal? Desmond Tutu in Südafrika, die feministischen Theologinnen Dorothee Sölle, Doris Strahm und Uta Ranke-Heinemann oder Eugen Drewermann?

Ludwig Zimmermann gibt Opfern, Tätern und Widerständlern in Oberschwaben einen Namen. Foto: Wolfram Frommlet

Ludwig Zimmermann: Das Katholische Oberschwaben im National­sozialismus. Zwischen Begeisterung, Anpassung und Widerstand. Eppe Verlag, Aulendorf 2021, 438 Seiten, 30 Euro.

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