Die Wahrheit: Im Jahr des Tigers: Ohne anmalen und ausziehen
"Ausländer bezeichnen Beijing als ein ,Meer von Fahrrädern' … Laut Statistiken gibt es in Beijing 8,26 Mio. Fahrräder."
So steht es in meinem allwissenden Lieblingschinabuch "China-Reisen: 999 Fragen und Antworten" aus dem Verlag Volkschina von 1996. Und noch 2005 behauptete die britische Sängerin Katie Melua in einem kleinen Hit "There are nine million bicycles in Beijing / Thats a fact."
Millionen Fahrräder, das ist ungefähr das, woran bis heute Menschen, die noch nie in Peking waren, wie an ein Evangelium glauben. Tatsächlich mag es hier so viel Fahrräder geben. Doch stehen die meisten wohl inzwischen in irgendwelchen Fahrradkellern. Auf den hiesigen Straßen sieht man etwa so viele wie in Berlin bei schönem Wetter. In Peking regieren ganz klar die Autos, von denen wöchentlich 15.500 neue angemeldet werden. Im Moment sind 4,7 Millionen unterwegs. Oder auch nicht, denn Peking ist die Stadt mit den schlimmsten Staus der Welt. Das wurde zumindest in einer jüngst veröffentlichten IBM- Studie festgestellt.
So regt sich denn auch ein erster Widerstand gegen die Herrschaft der Automobile. Anfang Juli veranstaltete eine Gruppe junger Pekinger eine kleine Fahrraddemo. Dabei ließ man sich vom "World Naked Bike Ride Day" inspirieren, der normalerweise im Juni stattfindet. Mit bunt bemalten Oberkörpern fuhren achtzehn Männer und drei Frauen sechzehn Kilometer durch die Stadt. Allerdings war niemand völlig nackt, denn das hätte Ärger mit der Polizei gegeben. Ziel der Demonstranten war es, ein Zeichen gegen die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer zu setzen.
Das ist selbstverständlich gut und richtig, schließlich gilt in China: Wer das dickere Fahrzeug besitzt, hat Vorfahrt. Die Rechte von Fahrradfahrern werden traditionell missachtet. Andererseits darf ein Fahrradfahrer aber auch so fahren, wie er gern möchte. Kein Polizist runzelt auch nur mit der Stirn, wenn ich bei Rot über eine Ampel brettere; kein Fußgänger meckert, weiche ich mal auf den Gehweg aus. Und wenn ich auf einer vierspurigen Straße auf der Gegenfahrbahn fahre, ist das ebenso Jacke wie Hose.
Der Grund für dieses tolerante Verhalten ist wahrscheinlich, dass sich hier die meisten Autofahrer immerhin daran erinnern können, wie sie vor kurzem selbst noch in die Pedale traten. Deshalb fahre ich in unserer flachen Stadt auch lieber Fahrrad als anderswo auf der Welt. Ich fliege auf dem Sattel über unsere landstraßenbreiten Radwege und lasse so die im Stau stehenden Autos schnell hinter mir. Dagegen muss ich mich bei jedem Heimaturlaub aufs Neue an die Kleinkariertheit der Berliner gewöhnen, die mich für jeden noch so marginalen Verkehrsordnungsverstoß hysterisch zusammenschreien.
Vielleicht sollte ich bei meinem nächsten Aufenthalt in dieser Stadt auch eine Fahrraddemo organisieren. Die wird dann unter dem Motto stehen: "Fahrradfahren wie in Peking". Jeder der will, kann sich daran beteiligen, und beim Fahren ist alles erlaubt. Nur anmalen und ausziehen bleibt verboten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland