Die Wahrheit: "Hungerlöhne sind auch Löhne"
Ein Exklusiv-Interview mit dem neu berufenen Wirtschaftsweisen Ralf Sotscheck.
taz: Die Öffentlichkeit, sehr geehrter Herr Sotscheck, hat Sie bislang vor allem als Irlandkorrespondenten und militanten Nichtraucher gekannt. Vor Kurzem aber sind Sie in den exklusiven Rat der Wirtschaftsweisen berufen worden. Wie ist es dazu gekommen?
Ralf Sotscheck: Ich habe am Rande des Bundespresseballs mit einigen Herren von der Deutschen Bank die jüngste Krise auf dem Markt für europäische Staatsanleihen erörtert, und dabei hat man mein mir selbst bis dahin verborgen gebliebenes Talent entdeckt, wirtschaftliche Zusammenhänge intuitiv zu erfassen, also ohne Vorbildung oder Insiderkenntnisse, und als mir daraufhin der Job eines Wirtschaftsweisen angeboten wurde, habe ich, ohne zu zögern, zugegriffen.
Jetzt verdiene ich an jedem einzelnen Arbeitstag mehr als früher in einem ganzen Jahr, und ich bin zum ersten Mal im Leben in der Lage, mich selbst mäzenatisch zu unterstützen.
Und was sind das so für intuitive Einsichten, mit denen Sie sich als Wirtschaftsweiser bezahlt machen?
Können Sie Ihre Frage präzisieren?
Wie beurteilen Sie beispielsweise den Einfluss der steigenden Rohstoffpreise auf das Gedeihen der Konsumgüterindustrie?
Wenn der Euro auf den Devisenmärkten verliert und zugleich die Löhne in den Schwellenländern steigen, dann wächst automatisch der Kapitalbedarf in den börsennotierten Firmen der Konsumgüterindustrie. Nehmen Sie das Beispiel Irland. Welche Rohstoffe werden dort produziert? Natürlich hauptsächlich Dung, Torf, Holzwolle, tierische Fette, Eisenerz, Steinkohle, Mineralien, Gummi, Nickel, Salzwasser, Lakritze, Speck, Uran und Margarine.
Die Hauptmasse dieser Produkte wird in die Europäische Union und in die USA sowie nach Japan, China, Russland und sogar nach Indonesien exportiert, wobei wir berücksichtigen müssen, dass sich diese Warenzirkulation nicht in einem Vakuum vollzieht, sondern vielfältigen Störfaktoren ausgesetzt ist: Witterungseinflüssen, diplomatischen Krisen, Handelssanktionen oder manchmal auch nur simplen Missverständnissen bei der Zollabfertigung. Bis also auch nur ein einziges Gramm irischer Holzwolle in Jakarta den Weg in die Eingeweide eines für den deutschen Markt bestimmten Teddybären gefunden hat, vergeht bisweilen so viel Zeit, dass die Hersteller draufzahlen müssen.
Deshalb erhöhen sie die Preise, und so entsteht der Teufelskreislauf, den wir alle kennen - höhere Preise, nachlassendes Verbraucherinteresse, niedrigere Gewinne, sinkende Löhne, wachsende Risiken, verminderte Gewinnchancen, abwanderndes Kapital, erhöhte Arbeitslosenzahlen, geschwächte Nachfrage, zurückgefahrene Produktion, verringerte Steuereinnahmen, zerbröselnde Infrastruktur, Kurzarbeit, Selbstmorde, Randale, Bürgerkrieg, Armageddon. Meines Erachtens müssten wir umgekehrt verfahren, vom Bösen zum Guten hin, sprich: Wir sollten einen Gotteskreislauf ins Werk setzen …
Möchten Sie einmal kurz Luft holen?
Nein. Wieso? Wo war ich? Beim Gotteskreislauf. Der beginnt, wenn wir uns von der Zerstörung abwenden und etwas Gutes aufzubauen versuchen. Die positiven Folgen wären beträchtlich - steigende Steuereinnahmen, erblühende Infrastruktur, erhöhte Nachfrage, hereinströmendes Kapital, sinkende Arbeitslosenzahlen, vermehrte Gewinnchancen, niedrigere Preise - kurzum: eine florierende Volkswirtschaft.
Klingt wirklich nach einem soliden Erfolgsmodell.
Das geht natürlich nicht ohne eine Reform an Haupt und Gliedern. Wir müssen den Gürtel erst einmal enger schnallen, den Dienstleistungssektor deregulieren, die Gesetzgebungsverfahren und die Arbeitsabläufe in Ämtern und Behörden in Billiglohnländer wie Irland verlegen, den Rest des Staatsapparats so weit wie nur irgend möglich privatisieren, die Gewerkschaften zerschlagen und uns von der lieb gewordenen Vorstellung verabschieden, dass man die menschliche Arbeitskraft nicht ausbeuten dürfe. Auch Hungerlöhne sind Löhne. In Irland, um noch einmal dieses Beispiel anzuführen, wird seit mehr als zehntausend Jahren gehungert, ohne dass die Iren ausgestorben wären.
Und wie lautet Ihre Konjunkturprognose für das Jahr 2011?
Wenn die Reformen greifen sollten, erwarte ich eine Rendite, ein Bruttosozialprodukt und ein vierzehntes Monatsgehalt.
Da kann man ja wohl nur sagen: Hut ab! Und guten Appetit! Denn Sie sind, wie man hört, mit dem Bundeswirtschaftsminister zum Essen verabredet. Darf man fragen, wo?
Nein.
Auch gut. Bon appetit!
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