Die Verwandlung: Als Samsa im Kubismus erwachte
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeheuer verwandelt.“ Vor genau hundert Jahren, im Oktober 1915, veröffentlichte die Zeitschrift Die Weißen Blätter zum ersten Mal Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, die Buchausgabe folgte einen Monat später. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Lettre bietet eine schöne Möglichkeit, dieses Jubiläum gebührend zu begehen. Der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker ist in akribischer Detektivarbeit Kafkas Beziehung zur ungefähr gleichzeitig entstandenen Kunstrichtung des Kubismus nachgegangen – wobei sich die Recherche, wann wo und wie Kafka mit ihr in Berührung kam, wie ein wahrer philologischer Krimi liest.
Das Interessante ist: In seinen frühen Texten, die 1908 unter der Überschrift „Betrachtung“ in der Zeitschrift Hyperion erschienen, hat Kafka, so Schöttger, „eine Darstellungsweise entwickelt, die erzählerische Entsprechungen zur kubistischen Gestaltungsweise aufweist“. Die Entsprechung liegt vor allem in der Polyperspektivität. In einem der Texte, „Kleider“, verknüpft Kafka Beobachtung und Imagination, was zu epischen Perspektivwechseln führt, die den unterschiedlichen Blickwinkeln auf kubistischen Bildern entsprechen. Gleichzeitig beendete Picasso sein berühmtes Gemälde „Les Demoiselle d’Avignon“, das als Ursprung des Kubismus gilt.
Kafka konnte damals den Kubismus noch nicht gekannt haben. Mit einiger Verkürzung (zu der sich Schöttker nie verleiten lässt) ließe sich also sagen, dass Kafka und Picasso den Kubismus koerfunden haben. Die Idee, einen Menschen sich in einen Käfer verwandeln zu lassen, hatte Kafka zu diesem Zeitpunkt auch schon. „Ich habe wie ich im Bett liege die Gestalt eines großen Käfers“, heißt es in einem seiner Texte aus der Zeit.
Die Idee ausgeführt und „Die Verwandlung“ geschrieben hat Kafka aber erst Ende 1912, und in dieser Zeit, so weist Schöttger kleinteilig nach, hat er dann wahrscheinlich durchaus kubistische Bilder gekannt – die ihm dann auch den erzählerischen Schub gegeben haben, den „Käfer in ein handelndes Wesen“ (Schöttger) zu verwandeln. Die Begegnung mit dem Kubismus könnte ihn darin bestärkt haben, sich von der „Naturerscheinung“ (so Kafka im Tagebuch) zu entfernen. In vielen Details – so spielen sowohl im Kubismus als auch in der „Verwandlung“ Zeitungen, Äpfel und Violinen eine wichtige Rolle – geht Schöttger schließlich motivischen Überschneidungen nach.
Man hat nach dieser Detektivarbeit ungeheure Lust, einmal wieder „Die Verwandlung“ zu lesen. drk
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