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Archiv-Artikel

Die Unparteiischen (8): Norbert Rheinlaender, Bürgerinitiative Westtangente Gehören Bürgerinitiativen nicht verboten?

Am Sonntag wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik jedoch ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

Die moderne Gesellschaft verführt uns, Dienstleistungen bequem in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig vermissen wir unmittelbare und den Problemen angepasste Lösungen.

Solange wir glauben, dass der Sachverstand allein in den Amtsstuben der Bezirks- und Senatsämter oder in beauftragten unangreifbaren großen Büros sitzt, wird sich daran nichts ändern. Anwohner- und Bürgerinitiativen dagegen kennen die Unzulänglichkeiten ihrer Umgebung besser und wissen häufig einfache, sparsame und bessere Lösungen – von der Verkehrsberuhigung über das öffentliche Grün bis hin zur Entwicklung und Gestaltung ihres Stadtteils. Diese „Think-tanks“ in den Kiezen, also kleine Büros, die mit den Örtlichkeiten und Problemen vertraut sind, weil sie darin wie alle übrigen Bewohner leben, können die erarbeiteten neuen Denkansätze und innovativen Lösungen nicht nur genauer umsetzen, sondern auch dirigieren.

Demokratie heißt also nicht, Steuern zu zahlen und sämtliche Entscheidungen an Politiker und Verwaltungen ohne Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten zu delegieren. Demokratie bedeutet Selbstorganisation und Selbstverwaltung. Wir sollten, was uns nicht passt, selbst in die Hand nehmen. Statt Bittsteller wird der Bürger zum Mitentscheider.

Es gibt bekannte Instrumente wie die der „Runden Tische“, die Lösungen erarbeiten. Des Weiteren können Bürger in „Bürgergutachten“ vielfältige praktikable Lösungen, detaillierte und effektive Verbesserungen erarbeiten. Auch die Lokale Agenda Berlin 21 leistet dazu Vorarbeit, hat Kontakte zwischen Bürgern, Verwaltung, Politik und teilweise auch der Wirtschaft geknüpft und gemeinsame Ziele und Maßnahmenkataloge entworfen.

Im Kern bedeutet die Umsetzung der Lokalen Agenda Berlin 21 aber noch mehr: Genossenschaften ermöglichen Unabhängigkeit vom Markt, Mitbestimmung bei Wohnung und Umfeld sowie günstige Einkäufe. Gemeinschaftliche Hausprojekte übernehmen Verantwortung für die Nachbarschaft und das Umfeld. Community Gardens integrieren Migranten, gestalten und pflegen das Grün im Wohnumfeld. Schulen sind Nachbarschaftseinrichtungen, deren Räume von der Volkshochschule für Sprachkurse, von Selbsthilfegruppen zum Erfahrungsaustausch und von Bürgerinitiativen für Stadtteilarbeit, aber auch Feste genutzt werden.

Die Bürgerinitiativen helfen nicht nur, Nachbarschaften zu stärken und soziale Verantwortung zu übernehmen, sie vermitteln auch Erfahrung und Wissen. Deshalb sollten sie von Politik und Verwaltung ernst genommen, beauftragt und für ihre Arbeit auch entlohnt werden. Kiezfonds mit eigenen Jurys sollten mehr Geld und Einflussmöglichkeiten bekommen. Damit könnten Arbeitsplätze im Kiez geschaffen sowie Verwaltungen und politische Gremien entlastet werden. Die Verwaltungsreform wäre auf dem besten Weg.

Partizipation und Machtverteilung heißt aber auch Geldverteilung. Die Mittel sollen da landen, wo sie hingehören, und nicht unterwegs fremde Taschen füllen. Bürgergutachten sind deutlich preiswerter als teure Fachgutachten renommierter Firmen. Und mehr noch: Gibt es erst zahlreiche Kiezbüros mit einer finanzierten Mindestausstattung von Personal und Sachkosten, kann damit Nachbarschaftshilfe fußläufig, aktuell, kleinteilig und hochgradig effektiv organisiert werden.

NORBERT RHEINLAENDER

Morgen: Wer ist in Berlin integrationsresistent? Es antwortet: Hadji Halil Uslucan, Psychologe und Migrationsforscher