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Archiv-Artikel

Die Unparteiischen (3): HANNA-RENATE LAURIEN, frühere Abgeordnetenhaus-Präsidentin Müssen Politiker lügen?

Am 17. September wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

Mit einem Ja auf diese Frage fällen wir ein vernichtendes Urteil über den Beruf des Politikers. Ob man Intrigen nur mit Lügen bestehen kann – nach meiner Erfahrung entwaffnet da nichts so sehr wie Wahrhaftigkeit –, ist keine politikspezifische Frage, das gibt es in vielen Berufsfeldern.

Spezifisch für die Situation des Politikers, der Parteien ist, dass zustimmende Mehrheiten erforderlich sind, um politische Pläne verwirklichen zu können, um an die Macht, sprich an die Regierung zu kommen oder sie fortsetzen zu können. In Wachstumszeiten überbieten sich die Parteien in Zusagen. Das ändert sich in Mangelsituationen. Das Ja zum „Muss“ heißt dann: Mehrheiten sind, wenn es um notwendige unbequeme Entscheidungen geht, nur mit Lügen zu gewinnen. Das träfe einen Lebensnerv unserer Demokratie.

Zentrale Aufgabe der Politiker ist es, den Bürger – so weit wie nur möglich – einsichtsbereit und entscheidungsfähig zu machen. Da ist zu erläutern, was geschähe, wenn die Entscheidung nicht vollzogen wird. Die Wirkung des Nichthandelns ist den Zumutungen, die sich für die Bürger, auch gruppenspezifisch verschieden, ergeben, gegenüberzustellen. Der Zusammenhang von Gegenwart und Zukunft, von Einzelinteresse und Gemeinwohl ist anschaulich und bürgernah zu verdeutlichen. Tun das die Parteien deutlich genug?

Handlungsalternativen müssen öffentlich diskutiert werden. Das hat eine köstliche Nebenwirkung: Man diskutiert das Wie der Änderung, nicht mehr das Ob! Dass dabei auch die unterschiedlichen Interessen deutlich werden, kann dem Wähler zeigen, wie schwierig politische Entscheidungen in einer komplexen Gesellschaft – anders als am Stammtisch! – sind. Lügen sind da kein Ausweg. Siehe Gesundheitsreform.

Informationsveranstaltungen müssen selten wegen Überfüllung geschlossen werden. Doch wenn jemand in die Behauptung flüchtet: „Wer dem Bürger die Wahrheit sagt, wird nicht gewählt“, so verzichtet er darauf, die Vermittlungspflichten und deren auch attraktive Gestaltung einzufordern, und er unterschätzt den Bürger. Ein sehr persönliches Beispiel: Rheinland-Pfalz, Ende der Siebzigerjahre, Haushaltskürzungen. Ich musste entscheiden: Entweder wird das Zentrum neuartiger Behindertenförderung errichtet oder etwa acht Schulen bekommen ihre Turnhallen. Ich bin in die Schulorte gefahren und habe mit den Betroffenen diskutiert. Bis auf einen Schulort: Zustimmung zum Vorrang der Behinderten. In der bald folgenden Wahl: auch in diesen Orten die Mehrheit.

Noch ein Blick auf den Umgang der Politiker miteinander. Eine Sache ist noch ganz geheim. Ein Abgeordneter aus der Opposition oder aus der Koalitionspartei – fragt. Soll man lügen: „Nein, da ist nichts dran!“? Nein, man antwortet: „Ich habe ein nicht mitteilbares Wissen.“ – Oder: Man hat eine Idee – z. B. den Beitrag für die Kita nach Elterneinkommen zu staffeln. Soll man der Fraktion vorgaukeln, das fände tolle Zustimmung? Nein, man muss beides, die Widerstände und die Zustimmung, beschreiben und dann zäh und in Einzelheiten auch kompromissbereit diskutieren. Das kann gelingen, und es gelang.

Und noch etwas zum Schmunzeln und Weiterdenken: Wenn mein Chef Bernhard Vogel mit einem Dress nicht sehr einverstanden war, log er nicht schmeichelnd, sondern sagte: „O, Sie haben heute aber einen besonders schönen Schmuck!“ Verlagertes Lob erspart eine Lüge! HANNA-RENATE LAURIEN

Morgen: Finden Kids Sportvereine nicht „total uncool“? Es antwortet: Peter Hanisch, Präsident des Landessportbunds