■ Die UNO muß ihre Rolle grundlegend überdenken: Voyeure mit Helm
Die neue Sitzungsperiode der UNO-Vollversammlung steht im Zeichen wachsender Unsicherheit über die Selbstdefinition der Vereinten Nationen. Kann sie – soll sie – Weltpolizei spielen, die vielen immer neu aufflackernden Konflikte der Welt eindämmen und austreten? Diese Rolle, noch vor drei Jahren fester Bestandteil der „Neue Weltordnung“-Rhetorik, hat sich als unrealisierbar erwiesen; sie war die letzte Ausgeburt eines alten Denkens, das die Welt als monozentristisches Gebilde, als zentral zu steuernde Maschine begreift. Der Golfkrieg war in diesem Sinne eine Komödie der Illusionen, die finale und grandios falsche Selbstbestätigung einer überholten Weltsicht. Zu keinem Zeitpunkt danach hat der Glaube, die Welt könnte durch Entschlossenheit und überlegene Planung gerettet werden, bei der Bewältigung von Kriegen und Bürgerkriegen irgendeine Rolle gespielt.
Es gebe Wichtigeres in der Welt als Bosnien und Somalia, sagte jetzt, ganz im Zeichen der neuen Bescheidenheit, Anthony Lake, Sicherheitsberater des US-Präsidenten Clinton. Es mehren sich die Stimmen, die den Rückzug der USA aus UN-Missionen fordern. Zur Unterfütterung des amerikanischen Sendungsbewußtseins geben die Blauhelm-Einsätze nichts mehr her. Denn nach dem Ende der Kambodscha-Mission der UNO bleiben als Aushängeschilder der Weltorganisation nur noch die beiden Desaster namens Somalia und Bosnien. Die UNO, die vom Glauben an historische Missionen lebt, hat ihr Selbstbewußtsein verloren; in einer immer widersprüchlicher erscheinenden Welt, die kein einheitliches Modell der Konfliktlösung verträgt, traut sie sich nicht einmal mehr zu, dort eine Rolle zu suchen, wo internationale und neutrale Vermittlung wichtig sein könnte. Wäre die UNO von sich selbst überzeugt und wären die Großen der Welt von den Fähigkeiten der UNO überzeugt, sähe es ganz anders aus: UNO-Friedenstruppen könnten konfliktentschärfend in Gaza und Jericho stationiert werden; UNO-Beobachter könnten die Wahlen in Südafrika nächstes Jahr vorbereiten. Und aus Kambodscha würden sie nicht abziehen, weil der zerbrechliche nationale Konsens dort noch stabilisiert werden muß.
Aber von Weitblick ist nichts zu spüren. Blinder Rückzug ist angesagt, und nicht einmal mit schlechtem Gewissen. Im März 1995 wird die UNO aus Somalia abziehen, beschloß der Sicherheitsrat vergangene Woche, und die Macht an eine gewählte somalische Regierung übergeben: Alle Warlords wissen jetzt, wie lange sie noch durchhalten müssen, bis sie ihren Sieg offen feiern können. Der Sicherheitsrat beschloß letzte Woche auch, daß UNO-Beobachter nach Liberia entsandt werden, wo der dreijährige Bürgerkrieg mit einem allseits akzeptierten Waffenstillstand endete und im Februar Wahlen stattfinden sollen – aber die Beobachter sollen keinesfalls ein erneutes Ausbrechen des Konfliktes verhindern. Und, dritter Beschluß der vergangenen Woche: Eine UNO- Mission wird bis Ende Oktober in Haiti stationiert, rechtzeitig zur Wiederkehr des gestürzten Exilpräsidenten Jean-Bertrand Aristide; sie wird dort nützliche Arbeit im Straßenbau und der Polizeiausbildung leisten, aber kein Mandat haben, gegen renitente Teile des haitianischen Militärs vorzugehen. Die Blauhelme werden absitzen und zuschauen.
Ist das die Zukunft der UNO? Zusammengewürfelte Haufen von Voyeuren mit blauen Helmen, symbolisches Flaggenzeigen in den Armenhäusern der Welt, wo niemand anders mehr hinmöchte und wo das Sterben einfach nicht wichtig genug ist, um den Weltfrieden zu bedrohen? Wenn dem so ist, so haben sich das die Politiker der großen, die UNO-Politik bestimmenden Mächte selbst zuzuschreiben. Wenn UNO- Militärkontingente nichts tun, was nicht auch von erfahrenen zivilen Entwicklungshelfern viel billiger erledigt werden könnte, liegt das daran, daß die UNO jetzt tatsächlich jene lästige Funktion der Entwicklungszusammenarbeit erfüllen muß, für die einzelne Regierungen in den Industrienationen immer weniger bereit sind zu zahlen. Es ist einfacher, Soldaten nach Übersee zu schicken als Geld – zumal diese Soldaten ja nicht zu sterben brauchen.
Mehr Militär und weniger Geld, mehr Zuschauertätigkeit und weniger Wiederaufbau, mehr Symbolik und weniger Pragmatik. Es ist ein trauriges Bild, das die UNO da abgibt, und es ist nicht einmal ihre Schuld. Die reichen Länder der Welt verstecken sich hinter dem bequemen Popanz der institutionalisierten Zusammenarbeit; die UNO ist der Rahmen, mit dem sich Unwillen schmückt. Man ist überall präsent, aber man bewirkt nichts. Paradox ist dabei lediglich, daß der Erwartungsdruck wächst, daß an dem aus der Illusion leichter Patentlösungen geborenen Rezept „UNO-Mission“ festgehalten wird, obwohl alle Beteiligten um seine Nutzlosigkeit wissen. Dominic Johnson
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