■ Die Trauer um Hiroshima darf nicht vergessen machen, daß Japan für Krieg und für Millionen Tote verantwortlich ist: Die Verdrängung ist total
Vor 50 Jahren, am 6. und am 9. August 1945, wurden aus Maschinen der US-Airforce über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki zwei Atombomben gezündet. Wenige Tage später, am 15. August, kapitulierten das Land und seine kaiserliche Regierung. Hunderttausende waren getötet worden, hitzeverdampft, die Entkommenen von Sinnen, verstümmelt und – radioaktiv verseucht. Wer in Europa den Luftkrieg überlebt hatte, der war mit dem 8. Mai 1945 dort entkommen. Hier, im Fernen Osten, hatten die beiden Blitze aus scheinbar leerem Himmel nicht nur ein neues Zeitalter eingeleitet, das der potentiellen Selbstvernichtung der Menschheit, sondern die Physis Nachgeborener bis in den genetischen Grund zerstört, Generationen nach dem Abwurf der Bombe noch.
Ein halbes Jahrhundert später, in diesen Tagen, trauert die Welt um die Opfer von Hiroshima und Nagasaki. Dabei wird gewiß wieder auch die Frage aufgeworfen, ob die atomare Verheerung militärisch und moralisch vertretbar gewesen sei oder nicht, nachdem mit Antworten darauf bisher schon ganze Bibliotheken gefüllt werden könnten: Hätte die Erstürmung der „Festung Japan“ mit konventionellen Waffen nicht noch weit mehr Menschenleben verschlungen, darunter bei einer Invasion eine Viertelmillion alliierter Soldaten? Wären dabei nicht auch weit mehr Japaner umgekommen als an den beiden Augusttagen 1945? Und war „die Bombe“ in Wahrheit nicht vor allem eine Warnung an die Sowjetunion in dem sich bereits abzeichnenden „Kalten Krieg“?
Welche Entgegnungen darauf auch immer gefunden werden sollen oder schon getroffen worden sind, eines darf dabei nie vergessen werden: daß Hiroshima und Nagasaki am Ende jenes pazifischen Großkrieges standen, den das kaiserliche Japan mit dem Überfall auf Pearl Harbour, Hawaii, am 4. Dezember 1941 eröffnet hatte! So wie Hitler und seine Anhänger die Urverantwortung für jeden auf den europäischen und maritimen Kriegsschauplätzen umgekommenen Zivil- und Militärtoten tragen, die eigenen eingeschlossen, so gibt es auch für die japanischen Verluste einen Primärverantwortlichen: den Imperialismus des japanischen Militarismus! Sein Krieg begann nicht Ende 1941, sondern schon zehn Jahre zuvor. Korea, die Mandschurei, China – was japanische Eroberung und Besatzung bedeutete, was der Sieg der „Yamato-Rasse“ (das asiatische Pendant der „NS-Herrenrasse“) bedeutete, das hatten diese Völker schon lange vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit Millionen von Zivilermordeten durch die japanische Soldateska aufs blutigste erfahren müssen, allen voran das chinesische Nanking, das ihr 1937 für drei Tage preisgegeben war. Jetzt, 1941/42, machte die kontinentale Dimension des japanischen Vormarsches auch anderen Völkern des Fernen Ostens, Südostasiens und Polynesiens bis vor die Küste Australiens klar, was es hieß, wenn die Flagge Nippons über ihnen wehte: Massenmord, Massenvergewaltigung, Masseneinkerkerung, Massenfolter – das Kapitel bedarf seiner Aufdeckung vor der Weltöffentlichkeit, eingeschlossen die Grausamkeiten, die an alliierten Gefangenen in Bataan begangen worden sind.
Ich werde nie jenes Foto vergessen, das mir schon Ende 1945 vor Augen kam: Ein gefangener Australier, auf den Knien und mit verbundenen Augen, neben ihm ein japanischer Offizier, in beiden Händen hocherhoben das Samuraischwert, mit dem er dem Wehrlosen in der nächsten Sekunde das Haupt vom Rumpfe trennen wird ... „Lest we forget“ stand unter diesem Foto – damit wir es nicht vergessen.
Ja, damit wir es nicht vergessen, daß das militaristisch-imperialistische Japan der andere große Aggressor in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war und zusammen mit Hitlerdeutschland eine Welt- und Menschheitsbedrohung sondergleichen.
Ich weigere mich, diese historischen Zusammenhänge über die Trauer um die Toten von Hiroshima und Nagasaki aus einer falschen Pietät heraus zu unterschlagen. Wie im Nachkriegsdeutschland das bombenzerstörte Dresden zur Exkulpierung der NS-Verantwortlichen mißbraucht worden ist, so werden sich auch diesmal wieder die Stimmen erheben, die alle anklagen, nur nicht die einheimische Verbrecherbande der kaiserlichen Militärführung.
Im Nachkriegsjapan haben diese Stimmen immer den Ton angegeben. Zwar ist auch im Deutschland nach 1945 die Verdrängung der historische Sieger geblieben, aber daneben hat es unbezweifelbar enorme Anstrengungen zur Aufhellung der NS-Vergangenheit gegeben. Nichts dergleichen in Japan, von wenigen ehrenvollen Ausnahmen in Künstlerkreisen abgesehen. An dieser Bilanz ändern auch späte, eher widerwillig abgetrotzte Bekenntnisse aus dem Munde japanischer Spitzenpolitiker und aus dem Kaiserpalast nichts. Die Verdrängung kann als total bezeichnet werden.
Weit mehr noch als in Deutschland sind ihre Energien in die japanische Wirtschaft geflossen, aber wie keine ist es auch in Japan die gleiche ökonomische Elite gewesen, die dabei den Ton angegeben und die Macht in ihren Händen behalten hat. Aus den Rüstungskonzernen erwuchsen die Manager der japanischen Nachkriegsgesellschaft, die Technokraten der Vernichtung schufen die Grundlagen für die weltweite Exportindustrie – von den elf großen Autoherstellern Japans waren zehn im Kriege entstanden (nur Honda ist eine Neuschöpfung). Nissan dagegen begann als Lastwagenproduzent – in der okkupierten Mandschurei als Lieferant für die Armee und mit Tausenden chinesischer Sklavenarbeiter. Nimmt es irgend jemanden wunder, daß dieses Japan und seine Justiz nicht einen einzigen Strafprozeß gegen die politisch, militärisch und wirtschaftlich Verantwortlichen für ihre Verbrechen eingeleitet hat, nicht einen?
Ich mache diese Ausführungen, weil ich bei meiner Trauer um die Toten von Hiroshima und Nagasaki nicht in einer Reihe stehen will mit denen, die diese Trauer aus ideologischen Gründen instrumentalisieren werden, um die japanische Grundverantwortung an der Katastrophe zu leugnen.
Unsere Trauer sollte vielmehr verbunden werden mit der Notwendigkeit, drei Gefahren in der Gegenwart, erhöhter aber noch in Zukunft, abzuwehren.
Die erste davon ist die weiterer Atomtests, ungeachtet der veränderten Weltsituation, gleichsam, als gelte der Status quo des „Kalten Krieges“ noch. Natürlich spreche ich vom Frankreich Jacques Chiracs. Zwischen September 1995 und Mai 1996 sollen über dem südpazifischen Moruroa-Atoll acht Atombomben gezündet werden. Nehmen wir unsere Trauer um Hiroshima und Nagasaki zum Anlaß, der Regierung Frankreichs zu erklären: Dies ist keine innere Angelegenheit der Grande Nation, dies ist ein Verbrechen – gegen die Menschen der Region und gegen die globale Ökologie!
Die zweite Gefahr besteht darin, daß nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Ausverkauf ihrer Atombestände droht, ihr zerlegbares Material durch gewissenlose Geschäftemacher und korrupte Politiker munter zu vagabundieren und zu nomadisieren begonnen hat. Die „Bombe auf Wanderschaft“ deckt auf geradezu schauerliche Weise auf, in welchem Zustand mörderischer Brisanz sich die Völkergemeinschaft 50 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki befindet.
Die dritte und nicht mindere Gefahr besteht in den bereits weitgehend realisierten Plänen der Atomindustrie und ihrer interkontinentalen Lobby, die „Minibombe“ zu erproben und herzustellen. Das ist der „kleine Bruder“ der Megabombe. Sie soll nicht zur Selbstvernichtung der Menschheit führen, sondern einen „begrenzten Atomkrieg“ möglich machen, den „überschaubaren“ ... Die Herren haben auch schon das Stichwort gefunden, mit dem sie ihre verbrecherischen Pläne zu rechtfertigen suchen: den „Nord-Süd-Konflikt“. Nur ist dabei ganz selbstverständlich, jedenfalls nach den Visionen jener atomaren Zukunftsplaner, daß die „Minibombe“ nicht über den reichen Staaten der nördlichen Hemisphäre platzen soll, sondern über den städtischen Massenballungen des armen Südens.
Nutzen wir also unsere Trauer, um den Praktikern aller drei Gefahren in den Arm zu fallen. Und lassen wir gleichzeitig nicht zu, daß diese Trauer verfälscht wird, weder in Japan noch bei uns noch anderswo, um die japanischen Mitverantwortlichen historisch, politisch und moralisch zu absolutieren. Auch dann nicht, wenn die Frage, ob der 6. und der 9. August 1945 noch höhere Totenziffern verhindert hat oder nicht, für immer offen bleiben wird. Ralph Giordano
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