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Archiv-Artikel

Die Stunde der Abweichler Kommentar von BETTINA GAUS

Manchmal ist das Volk eben doch berechenbar. Die ersten Prognosen erlaubten keinen vernünftigen Zweifel mehr: In Nordrhein-Westfalen ist die letzte rot-grüne Landesregierung erwartungsgemäß abgewählt worden. Und jetzt? Jetzt schaut kaum noch jemand nach Düsseldorf. Das Interesse konzentriert sich völlig auf Berlin. Zu Recht.

 Seit langem wird fast jede Landtagswahl zur Schicksalsfrage für den Bund hochgejazzt. Das ist meist eine populistische oder feuilletonistische Albernheit. Mag der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle noch so oft Neuwahlen fordern: Auf parlamentarischem Wege werden Regierungen von den eigenen Leuten gestürzt, nicht von der Opposition und auch nicht von den Wählern eines Bundeslandes. Mögen noch so viele Leitartikler das Ende des „rot-grünen Projekts“ ausrufen: Für die SPD war diese Koalition nie ein Projekt, und die Grünen haben sich von solchen Illusionen längst verabschiedet. Um derlei gefühlten Firlefanz geht es nicht.

 Die Wahl in Nordrhein-Westfalen hatte dennoch tatsächlich eine bundespolitische Bedeutung. Es geht um den Kurs der so genannten Volksparteien – und somit um handfeste Machtfragen. Nach der Niederlage dürften einige SPD-Linke keinen vernünftigen Grund mehr sehen, den bislang zähneknirschend eingehaltenen Burgfrieden weiterhin zu wahren. Warum sollten sie künftig Regelungen zustimmen, die sie für politisch falsch halten, wenn sich das nicht einmal in Wahlerfolgen niederschlägt? Das rot-grüne Bündnis wäre nicht die erste Koalition, die an irgendeiner Frage von – scheinbar – untergeordneter Bedeutung zerbricht.

 Einige Abweichler genügen für den Verlust der Regierungsmehrheit im Bundestag. Der Kanzler hat deutlich gemacht, dass er nicht für einen Kurswechsel zur Verfügung steht. Das Ende der rot-grünen Koalition könnte somit näher sein, als Leute wie Westerwelle sich das je haben träumen lassen. Ob das der Opposition gefiele, steht auf einem anderen Blatt. Über der Schwäche der SPD ist nämlich fast in Vergessenheit geraten, dass auch die Union nach ihrem Weg weiterhin sucht. Will sie nach einem Machtwechsel nicht ebenso ratlos erscheinen wie einst Rot-Grün, dann braucht sie Zeit. Wie viel Zeit sie noch hat, ist nun völlig offen.