Die Städte im Irak: Keiner kennt die Zahl der Opfer
■ Auf unseren Bildschirmen ist der Krieg immer noch sauber. Die Militärzensur beider Seiten verweigert der Weltöffentlichkeit Bilder von den Zerstörungen und Informationen über die Opfer im Irak. So sind wir bisher auf Plausibilitätsüberlegungen von Experten und auf Augenzeugenberichte angewiesen.
41 Tote und 1921 Verwundete habe es bis zum Dienstag unter der irakischen Zivilbevölkerung gegeben, meldet der irakische UNO-Botschafter in New York in einem Brief an UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar. Die irakische Führung steht zwar vor dem Dilemma, die Zahl der zugegebenen Opfer einerseits niedrig zu halten, um die Kampfmoral nicht zu schwächen, sie andererseits aber auch nicht zu verschweigen: Schließlich klagt man die USA der Bombardierung auch von Wohnvierteln und Milchfabriken an. Wie auch immer die irakischen Zahlen zustande gekommen sein mögen: Niemand kann glauben, daß bei 10.000 Bombeneinsätzen nicht mehr Menschen zu Schaden gekommen sind. Und wo die offiziellen Informationen aufgrund der Zensur auf beiden Seiten (siehe Artikel unten) nicht nur dürr, sondern geradezu irreführend sind, bleibt den Journalisten außer Plausibilitätsannahmen nur Augenzeugen zu suchen.
Der einzige gestern noch aus Bagdad berichtende CNN-Reporter, Peter Arnett, durfte zwar auf Einladung des irakischen Informationsministeriums das Al-Rashid-Hotel verlassen und wurde auf eine 16 Kilometer lange Tour in einen Außenbezirk von Bagdad mitgenommen, um eine zerstörte Trockenmilchfabrik zu besichtigen. Doch auf der Fahrt fiel ihm „kein sichtbarer Schaden“ auf. Er sei an einem halben Dutzend geöffneten Gemüse- und Lebensmittelläden vorbeigefahren. Vor den — ebenfalls offenen — Tankstellen hätten Hunderte von Autos gestanden. Einige bepackte Autos kehrten nach Bagdad zurück, wo der Mangel an Trinkwasser und Strom nach sieben Tagen Bombardierung die größte Schwierigkeit zu sein schien.
Zeigen wollten ihm die Irakis vor allem zerstörte zivile Einrichtungen. In der Trockenmilchfabrik seien „die Maschinen zu einem Knäuel zusammengeschmolzen“, und, so wurde ihm berichtet, beim Bombardieren einer Schule seien in der Nähe wohnende Kinder getötet worden.
Augenzeugenberichte aus den Stunden, in denen der CNN-Reporter nur vom Al-Raschid-Hotel aus die aufsteigenden Rauchsäulen beschreiben konnte, sind jetzt durch Flüchtlinge bekanntgeworden, die es bis in ein Übergangslager an der jordanischen Grenze geschafft haben. Auch ihre Berichte sind allerdings widersprüchlich. „Die Bombardierung übersteigt jede Vorstellung“, sagt einer von ihnen, den die Nachrichtenagentur 'Reuter‘ zitiert. „Schreiende, weinende Kinder drängen sich total verängstigt in Bagdads Luftschutzräumen, während draußen die alliierte Kriegsmaschine donnernd heranwalzt, untermalt vom Knallen der Luftabwehr.“
Auch der 45jährige Chemieingenieur Jack King, der mit einer Gruppe von 25 Friedensaktivisten aus verschiedenen Ländern in einem Friedenslager an der kuwaitisch- saudischen Grenze gewesen war, berichtet Schlimmes von den vier Tagen, die er auf der Rückreise in Bagdad verbracht hat, spricht aber nicht von der Verwüstung ganzer Wohnbezirke: „Sie haben Bagdad verwüstet, eine der schönsten Städte der Welt. Ich habe zugesehen, wie die Benzin- und Gastanks bis auf den Grund ausgebrannt sind. Ich habe gesehen, daß Raketen das Elektrizitätswerk getroffen haben, und schon seit dem letzten Donnerstag gibt es kein Wasser mehr.“ Der 38jährige US- Amerikaner Dan Winters, der mit ihm zusammen am jordanischen Grenzübergang Ruweischid eintraf, berichtete: „Alle zwei bis drei Sekunden gingen Bomben nieder, und wir haben (vom Al-Raschid-Hotel aus, d.Red.) viele Brände gesehen, aber die meisten davon waren in den Außenbezirken von Bagdad.“
Andere Augenzeugen erzählen auch von starken Zerstörungen in Wohnvierteln, die in der Nähe von militärischen, politischen oder industriellen Anlagen liegen, berichtet die 'Washington-Post‘-Reporterin Nora Boustany. Sie sprach beispielsweise mit Majhed Mohammed, einem ägyptischen Automechaniker, der in Falluja, 90 Kilometer westlich von Bagdad, gearbeitet hat. Dort sei eine Chemiefabrik zerstört worden. „Ich habe Leichen auf der Hauptstraße gesehen. Wir haben dann ein paar von den Toten und Verwundeten ins Krankenhaus gebracht. Da lagen schon viele Kinder, darunter fünf- und sechsjährige.“
Bomben auf den Nordirak
Der indische Manager einer Baufirma dagegen erklärte der Reporterin, die Cruise Missiles seien in Bagdad „zielgenau“ niedergegangen. Durch sie, nicht durch Bomben, seien die meisten Zerstörungen bewirkt worden. Issam Mustafa, ein 21jähriger jordanischer Medizinstudent erzählte, er habe vergangenen Donnerstag in der Notaufnahme von Bagdads zentralem Hospital gearbeitet. Da seien mehrere Menschen, deren Häuser getroffen wurden, mit Bombensplittern eingeliefert worden: eine Frau mit verletztem Arm, zwei Kinder mit schweren Verbrennungen und ein Vierzehnjähriger. „Am Wochenende hatte ich keinen Dienst, aber alle halbe Stunde konnte ich Krankenwagen kommen hören.“
Acht von der 'Washington Post‘- Reporterin interviewte Flüchtlinge berichteten von zusammengestürzten Gebäuden, wobei im Inneren Menschen getötet und verletzt worden seien. Auch ein Iraker kam bis über die jordanische Grenze: Muthana Abu Ahmad, der als Taxifahrer nicht weniger als 750 US-Dollar für die Fahrt von Bagdad bis Amman kassiert. Er hatte ein bombardiertes dreistöckiges Haus in Mahmoudiyah, nördlich der Hauptstadt, gesehen, dessen Trümmer acht Menschen unter sich begraben hätten.
Die Frankfurter Hilfsorganisation Medico International meldet unter Berufung auf „sichere“ irakische Oppositionsquellen, im nördlichen Irak seien die Städte Kerkuk, Sulimanya und Raniya Dienstag und Mittwoch mehrfach vom B-52-Bombern bombardiert worden. Besonders die Erdölstadt Kerkuk soll erheblich zerstört worden sein, irakische Gewährsleute sprechen von mindestens 1.500 Toten.
Der Flüchtlingsstrom geht nicht nur Richtung Jordanien: Die iranischen Behörden haben am Mittwoch rund tausend ausländischen Staatsbürgern, die vor dem Golfkrieg geflohen sind und seit Dienstag an der irakisch-iranischen Grenze warteten, die Einreisegenehmigung erteilt. Bei den Flüchtlingen handelt es sich nach Angaben der iranischen Nachrichtenagentur 'Irna‘ um Afghanen, Inder, Somalis, Algerier, Tunesier, Äthiopier und Jemeniten. Seit Ausbruch des Kriegs sind etwa 2.000 aus dem Irak geflüchtete Ausländer im Iran eingetroffen.
Hilfsgüter über UNICEF
Das deutsche Komitee des Kinderhilfswerks Unicef hat für Opfer des Golfkriegs eine Million Mark zur Verfügung gestellt. Wie Unicef in Köln mitteilte, startete am Dienstag ein Flugzeug der Organisation mit Medikamenten, Wassertanks, Decken und Kindernahrung von Kopenhagen nach Jordanien. Die UNICEF bittet um Spenden unter dem Stichwort „Nothilfe Golfkrieg“ auf das Konto 300.000 bei allen Banken und Sparkassen und beim Postgiroamt Köln. mr
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen