: Die Schwestern der Scheicha
AUS DAMASKUS MONA SARKIS
Weiße Kopftücher, dunkelblaue Kopftücher. Blaue Mäntel, dunkelblaue Mäntel. Auch mal ein schwarzer Gesichtsschleier. Man kann diese Frauen überall sehen – spricht man aber die Syrer auf sie an, geben die vor, sie nicht zu kennen. Dabei bilden die Qubeissiat Syriens mächtigste religiöse Frauengemeinschaft.
Als Geheimsekte werden sie gehandelt. Zum einen, weil ihre angeblich 75.000 Mitglieder ihre Religion nicht öffentlich praktizieren, zum anderen weil sie nicht mit Außenstehenden sprechen. Informationen dringen nur über muslimische Religionsgelehrte nach außen, mitunter auch über Frauen, die einmal eines ihrer Seminare besucht haben. Es sind Informationen, die angesichts des hochgradig tabuisierten Themas „Religion und Frauen“ zögerlich weitergegeben werden – zumal die Qubeissiat der einflussreichen Oberschicht angehören. Wie hoch ihr Rang innerhalb der Gemeinschaft ist, kann man sehen: Je dunkler ihre Mäntel, desto näher stehen sie ihrer sagenumwobenen Scheicha Munira al-Qubeissi.
Die 1933 geborene Namensgeberin der Sekte entstammt einer erfolgreichen Damaszener Familie. Munira, zunächst unverschleiert, studierte Naturwissenschaften. Anfang der 60er Jahre begann sie ein Religionsstudium unter dem damaligen Großmufti, Ahmad Kaftaro, an der Abu Nour Foundation, Syriens größter privater Institution für Islamunterricht. Das von ihr entwickelte Islamverständnis bezeichnet Kaftaros Sohn, der heutige Leiter Abu Nours, als sufistisch, also den Ideen der frühislamischen Sufimeister Ibn Arabi und Mansur al-Halladsch zugewandt, die eine unio mystica, eine Vereinigung der Seele mit Allah propagierten. Eine Vorstellung, die mit der absoluten Alleinstellung Allahs laut Koran kaum vereinbar ist. Entsprechend suspekt ist die gottähnliche Stellung sufistischer Scheichs oder Scheichas.
Genau die aber praktiziert Munira al-Qubeissi: bedingungsloser Gehorsam und keinerlei Infragestellung ihrer Ansichten – so lauten die Prämissen, um eine „Qubeissieh“ zu werden und zu bleiben. Der liberale Scheich Mahmud Akkam berichtet, eine Weile habe ihn die Leiterin des wohltätigen Hamdi al-Zaim Specialized Hospital in Aleppo aufgesucht, um religiöse Fragen zu debattieren. Doch wenig später hätten ihre „Schwestern“ sie zurückgepfiffen – Muniras Wort gelte mehr als das eines Religionsgelehrten. Widerspruch würde mit Ausschluss bestraft – und wer wolle dies riskieren, wo doch „die Liebe zur Scheicha der Liebe zum Propheten Muhammad gleichkommt“. Der syrische Koranexperte Muhammad Schahrour berichtet, dass deshalb viele Qubeissiat mit ihren Vätern und Brüdern oft streiten, während sich die Ehemänner „wie Schafe“ fügen.
Für ihre Anhängerinnen wäre eine Begegnung mit der obersten Scheicha die Erfüllung. Ob sie sie allerdings erleben, ist fraglich. Meist müssen sie sich in ihrer stark hierarchischen Gemeinschaft mit den Missionarinnen aus der zweiten oder dritten Reihe begnügen. Abgeschirmt und nur von wenigen auserwählten Anhängerinnen umgeben, lebt Munira al-Qubeissi im Stadtzentrum von Damaskus. Gerüchten zufolge sollen männliche Religionsgelehrte sie zuletzt vor Jahren gesehen haben, ohne ihren schwarzen Gesichtsschleier soll sie überhaupt noch niemand zu Gesicht bekommen haben. Doch auch ohne Aussicht auf die ersehnte Begegnung gehört für ihre Anhängerinnen eine Pilgerreise in die syrische Hauptstadt zum Programm der Qubeissiat, ob sie nun in Syrien, Jordanien, Kuwait oder im Libanon leben – oder in Österreich, Frankreich und den USA. Alles Länder, in die sich das Netzwerk längst ausgebreitet haben soll, wie Ibrahim Hamidi, Syrienkorrespondent der saudischen Tageszeitung Al-Hayat, berichtet.
Laut der Damaszener Frauenrechtlerin Mia al-Rahabi nimmt die Ergebenheit der Anhängerinnen mitunter seltsame Züge an: „Die Frauen rutschen vor der Scheicha auf den Knien herum, küssen ihre Hände und sogar Füße. Wenn sie einen Schluck Wasser getrunken hat, eifern sie um das Glas. Befiehlt sie oder eine ihrer Missionarinnen die Scheidung – etwa weil der Mann zu Ramadan nicht fastet –, befolgen die Frauen diese Weisung umstandslos.“ Dass das über siebzigjährige „Fräulein“, wie al-Qubeissi auch genannt wird, selbst nie geheiratet hat, steht wiederum im Einklang mit den Sufipraktiken – und im Widerspruch zum traditionellen Islam, der keinen Zölibat vorsieht. Für ihr eigenes Leben sieht al-Qubeissi das offensichtlich anders, ebenso wie einige ihrer Leitscheichas, die ihrem Beispiel gefolgt sind. Gegenüber ihrer jungen Gefolgschaft treten sie allerdings, so Hamidi, durchaus als Heiratsvermittlerinnen auf – auch um ihren ohnehin beachtlichen Einfluss zu vergrößern.
In der Tat fällt der hohe soziale Rang der Frauen auf. Kheir Jacha, Mouna Queidr, Nabila al-Qizbari, Raja’ Tasabichji, Samira al-Ziad, Fatima Ghabbar – die Qubeissiat-Liste, die Hamidi publiziert, liest sich wie das „Who’s who“ von Damaskus. Muhammad Schahrour meint, dass die Gutsituierten vorzugsweise „Schwestern“ mit dem gleichen sozialen Status anwerben, um sie mit den passenden Männern verheiraten zu können. Das so geknüpfte Netzwerk durchziehe inzwischen allmählich Syriens politisch einflussreiche Klasse und schwappe via Verehelichungen innerhalb der geschlossenen Gesellschaft auf andere Länder über. Nebenbei würde die Sekte so ihren Familien zu wichtigen Posten verhelfen. Auch deshalb schätzt Schahrour sie als „Wirtschaftsunternehmen“ ein.
Die Rekrutierung erfolgte bislang im Stillen: „Eine Bekannte aus gutem Hause trägt noch kein Kopftuch“, erklärt die unverschleierte al-Rahabi das Vorgehen. „Also wird sie zu einem Treffen eingeladen, möglicherweise unter dem Vorwand einer Geburtstagsfeier, wo sie dann in eine Debatte über die Bedeutung des Kopftuchs verwickelt wird.“ Bis vor kurzem noch hätten sich die Treffen im kleinen privaten Rahmen abgespielt, die Frauen seien getrennt und zeitversetzt eingetroffen. Grund für das Versteckspiel: Als nicht eingetragener Verein und ohne ministerielle Genehmigung dürfen die Qubeissiat offiziell keine Mitglieder werben. Inoffiziell aber haben sie es jahrelang getan. Dass sie jüngst grünes Licht für öffentliche Lehrstunden in Moscheen erhalten haben, beweist nicht nur ihr errungenes gesellschaftliches Gewicht, sondern auch das Taktieren der Diktatur: Was vor aller Augen verbreitet wird, ist für Regimekritisches weniger anfällig. Schließlich sind die Mitarbeiter des Geheimdienstes leichter in Moscheen einzuschleusen als in die Klassenzimmer der Schulen, in denen die Sekte seit Jahren zugange ist.
Über vierzig der rund achtzig Damaszener Schulen, die mehr als 70.000 Syrerinnen besuchen, werden von den Qubeissiat betrieben, so Hamidi. Sie sind beliebt, in erster Linie, weil dort die Schulgebühren deutlich niedriger sind als in teuren Privatschulen. Dem qubeissischen Interesse an der städtischen Oberklasse widerspricht dies nur auf den ersten Blick. Doch so können sie ihr Engagement im Dienst des almosenpflichtigen Islams demonstrieren, was zusätzliches Ansehen verschafft. Entsprechend viele kostenlose oder kostengünstige Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten unterhalten sie.
„Was sie genau anstreben und praktizieren, erfahren selbst ihre Mitglieder erst nach jahrelangen Loyalitätsbeweisen“, meint al-Rahabi. „Zunächst wollen sie, dass jede Frau ein Kopftuch trägt – der Gesichtsschleier ist keine Pflicht – und dass sie erkennt, dass ihr Platz zu Hause ist.“ Lehren und Heilen seien würdige Tätigkeiten für eine Frau. Die zum männlichen Konsumgut freigegebene „Westlerin“ hingegen gelte als Horrorvorstellung: Zwischen Beruf und Familie zerfetzt, gebe sie männlicher Dominanz nach, indem sie sich auf ein Püppchen oder eine Handlangerin im Büro reduzieren lasse und darüber verlerne, ihre Kinder liebevoll zu erziehen. Zur Vermittlung ihrer Wertvorstellungen erweitern die Qubeissiat, Hamidi zufolge, das staatliche Programm um zusätzliche Religionsstunden und gemeinsame Ausflüge. In ihrem sonstigen Lehrmaterial folgen sie aber den Vorgaben des Kultusministeriums.
Alles andere wäre in einer Diktatur wie Syrien auch verwunderlich. Muhammad Habbasch, der einzige „unabhängige“ Islamist im Parlament, spricht denn auch den wichtigsten Punkt unumwunden an: „Die Qubeissiat haben kein politisches Projekt.“ Dies sei zwar das erste, was man angesichts ihres Hangs zur Geheimhaltung vermute, aber diese Abschirmung sei schlicht typisch für Sufis.
Dass Syriens reger Geheimdienst nicht über die Aktivitäten der Sekte Bescheid weiß, ist tatsächlich kaum anzunehmen. Schaaban Abboud, Syrienkorrespondent der libanesischen Tageszeitung Al-Nahar, beleuchtet das Phänomen daher von anderer Seite. Unter Berufung auf Geheimdienstquellen schrieb er 2004, dass „hohe Autoritäten“ ihre Hand über das „gut organisierte“ Frauennetzwerk hielten und es niederen Geheimdienstbeamten, die sich wegen der Geschlechtertrennung den Frauen ohnehin nicht so einfach nähern können, schwer machen, deren Aktivitäten genauer zu erforschen.
Für eine stillschweigende Zustimmung der Machtzentralen spricht auch die Unaufgeregtheit, mit der die qubeissische Leitfunktion von Amira Dschibril zur Kenntnis genommen wird, der Schwester Ahmad Dschibrils, des Führers der „Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando“. Syrienkenner Hamidi quittiert dies mit einem breiten Grinsen: Das in engem Kontakt mit dem syrischen Regime stehende Generalkommando ist offiziell auch dessen Linie zugewandt, nämlich einem säkularen arabischen Nationalismus. Was also hat Dschibrils Schwester auf der religiösen „Gegenseite“ zu suchen? Kaftaro von der Abu Nour Foundation sieht den Grund für die generelle Reislamisierung im „Scheitern des arabischen Nationalismus“. Und tatsächlich, dass der säkulare Panarabismus des Regimes nicht so recht greift, ist nicht zu leugnen.
Bereits in den 80er Jahren begann das Regime diskret nach einer Ersatzideologie für den Islam zu suchen. Man kam auf den sufistischen Sunnismus. Durch die vielen neu gebauten Moscheen, die auch zwischen den Gebetsstunden zugänglich sind und Islamunterricht anbieten, gab der Sufismus dem nach Identifikation hungernden Volk Futter, Damaskus aber behielt sich die Zufuhr der Ingredienzien vor. Dafür, dass dieser Plan aufgegangen zu sein scheint, sprechen die Qubeissiat. Sie sind aber nicht die einzige, sondern lediglich die spektakulärste, weil mächtigste Frauengemeinschaft. Die dem Sufismus eigene „Weltflucht“ zementieren die Frauen noch zusätzlich, indem sie das Heim als den einzig würdigen Platz der Frau propagieren – und damit die Abkehr ihres Geschlechts vom Aufbau der Zivilgesellschaft fördern. Der Diktatur von Baschar al-Assad erweisen sie so einen nicht zu unterschätzenden Dienst: die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist weiblich.