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■ Die SPD hat das Gespür für Stimmungen verlassenFlatternde Nerven

Kann ein Wahlkampf nicht ausnahmsweise einmal interessant sein? Oder sogar dazu beitragen, daß sich der politische Diskurs an Sachthemen entfacht, die den Menschen unter den Nägeln brennen und für deren Lösung es nicht nur leere Worte, sondern frischen Wind und etwas Courage braucht? Ein Tempolimit rund ums Jahr, das haben Sommersmogalarm und einsichtsvolle Reaktionen der Autofahrer erneut bewiesen, ist längst überfällig. Selbst den Kritikern geht langsam die Luft aus. Um wieviel Prozent die Smogverordnung die Ozonwerte tatsächlich senkt, ist dabei zweitrangig. Die Respektierung der angeordneten Einschränkungen zeigt vielmehr, daß das Umweltbewußtsein in Deutschland doch tiefer verankert ist, als mancher politisch Verantwortliche annehmen will. Und sie ist auch ein Zeichen für die Reformbereitschaft der Mitte: Ein besserer Schutz der Umwelt – jeder energisch handelnde Berufspolitiker stieße da wohl auf Verständnis.

Auch den Sozialdemokraten, die bis zur Verabschiedung ihres Regierungsprogramms jahrelang mit der Forderung nach einer generellen Geschwindigkeitsbegrenzung hausieren gingen, scheint der hessische Alleingang wieder auf die Sprünge geholfen zu haben. Nun will der Kandidat Scharping plötzlich doch den Rasern Grenzen setzen. Nichts als schnöder Populismus? Daß das Tempolimit in letzter Minute aus dem SPD-Regierungsprogramm flog, dahinter steckte nicht politisches Umdenken, sondern einzig ein Machtkalkül: Man will der angeblich so verängstigten Mitte vor der entscheidenden Wahl keine harten Realitäten, keine unangenehmen Wahrheiten und keine weiteren Opfer zumuten. Mit all diesen kleinen Unklarheiten aber drohen die Sozialdemokraten nicht nur jenes Kapital zu verplempern, das sie noch gar nicht gewonnen haben. Sie verspielen auch ihre eigene Reformbereitschaft. Ob der ökologische Umbau der Industriegesellschaft oder die Umverteilung der Arbeit – die gesellschaftlich brisanten Fragen sind allsamt Machtfragen, bei denen es Gewinner und Verlierer, Helden und Schurken geben wird. Innerhalb der politischen Klasse wollen aber nur wenige die Chance erkennen, daß man das politisch gestalten kann.

Je näher der 13. Oktober rückt, desto mehr werden die Angsthasen von der Realität eingeholt. Das Tempolimit ist nur ein Beispiel. Die flatternden Nerven in der SPD-Baracke sind ein untrügerisches Zeichen dafür, wie sehr die Sozialdemokraten das Gespür für Stimmungen verloren haben. Bei der Union gibt es klare Wahlkampflinien. Solche rechtzeitig vorzubereiten, das haben der machtbewußte Pragmatiker Scharping und seine Leute wohl verschlafen. Erwin Single

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