■ Die Rückkehr der Apparatschiks: Die nächste Krise kann morgen sein
Präsident Jelzin hat wieder einmal ein Formtief. Gewöhnlich hebt er danach zu einem Befreiungsschlag an – mit herkulischer Gewalt und kathartischem Finale. Diesmal sieht es gar nicht gut aus. Seit Tagen ringt er mit seinem Premier um die Besetzung des neuen Kabinetts. Alle Reformposten hat er ihm schon opfern müssen. Der Streit geht nur noch um einen: Fjodorow, den Finanzminister.
Nicht mal einen Wunschkandidaten will Tschernomyrdin dem Präsidenten kampflos konzedieren. In Rußlands nächster Regierung sitzen imaginationslose Apparatschiks, die sich nur auf zweierlei verstehen: verwalten und kreditieren. Boris Jelzin ist abgetaucht, während die Demokraten sich drauf vorbereiten, im Parlament die Opposition zu spielen – in der Hoffnung, die Riege der Roten Barone möge den Karren so schnell wie möglich in den Dreck fahren. Ob die Rechnung aufgeht?
Jelzin hat sich das Wahlergebnis zu sehr zu Herzen genommen. Die Verfassung, die es ihm erlaubt, relativ selbständig zu walten, scheint er noch nicht ausreizen zu wollen. Die ehemals zentristische Opposition, die es nicht einmal ins Parlament geschafft hat, bildet auf einmal die Regierungsriege. Über die Hintertür hat sie doch erreicht, was sie wollte. Kommunisten und selbst die Ultranationalisten könnten bald Regierung und Premier die ihren nennen. Schon jetzt sieht es so aus, als stelle die Regierung das Politbüro, das Parlament das Zentralkomitee, und abseits davon stünde ein machtloser Generalsekretär – Präsident Jelzin. Die Kompetenzlosigkeit früherer kommunistischer Minister wiederholt sich. In der neuen Regierung sitzt womöglich kein Minister, der sich auf Makroökonomie versteht. Die meisten sind Spezialisten in Sachen Subventionspolitik.
Es gehört zu den Ungereimtheiten der Geschichte, daß ausgerechnet jene nach den Wahlen das Ruder übernehmen, die vom Souverän kein Mandat erhalten haben – keineswegs zufällig. Denn wirtschaftspolitisch hatten sie außer wehleidigen Sprüchen und heuchlerischem Getue um die Volkswohlfahrt nichts vorzutragen. Und die anstehende Politik verspricht nichts Gutes. Schon in wenigen Tagen steht Rußland an der Schwelle zur Hyperinflation. Dem Normalbürger wird es noch schlechter gehen. Immerhin konnte er im letzten Jahr trotz allem zehn Prozent Kaufkraftzuwachs verbuchen. Damit ist es nun vorbei.
Die neue Regierung wird nicht lange durchhalten. Doch was kommt dann? Die Demokraten schmollen und gönnen sich eine Atempause. Sie bauen auf die Einsichtskraft der Wähler. Das Vertrauen in den Souverän ist ehrenvoll. Hoffentlich honoriert er den Vorschuß das nächste Mal. Alles ist denkbar. Klaus-Helge Donath, Moskau
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