Die Revolution wird abgesagt : KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN
Es wäre auch gar zu schön gewesen. Nach den rot-grünen Reformen bei Staatsangehörigkeit und Zuwanderung schien sich die große Koalition anzuschicken, auch in der Familienpolitik altdeutsche Sonderwege zu beenden. Unter dem Druck der demografischen Frage schien endlich eine Mehrheit der Konservativen bereit zu sein, den hiesigen Muttermythos zu verabschieden und für Kleinkinder ein Betreuungsangebot auf europäischem Niveau zu schaffen – ohne dabei gleich ganze Generationen verkrachter Existenzen heranwachsen zu sehen.
Vorbei. Nun hat die eigene Partei die ehrgeizigen Pläne der CDU-Familienpolitikerin vereitelt. Statt sich gleich auf ein Angebot von 750.000 neuen Krippenplätzen festzulegen, will die Koalition jetzt erst einmal den Bedarf testen. Das klingt ganz harmlos und pragmatisch nach einer Politik der kleinen Schritte – und ist doch etwas grundsätzlich anderes. Angebot oder Bedarf: In diesem Gegensatzpaar steckt eigentlich alles, worum es in der gegenwärtigen Debatte geht.
Bedarf, das hat etwas mit Bedürftigkeit zu tun, dem Gegenteil von Wahlfreiheit. Es bedeutet: Man betrachtet erst einmal die langen Wartelisten all derer, die trotz derzeit widriger Bedingungen den Anspruch auf einen Krippenplatz angemeldet haben. Angebot, das heißt: Man schafft zunächst die Plätze und setzt damit ein politisches Signal. Das Prinzip ist aus dem öffentlichen Nahverkehr bekannt, wo auf Nebenstrecken einst nur frühmorgens und zu Feierabend je ein Schienenbus über die Dörfer zuckelte – „bedarfsorientiert“ hieß ein solcher Fahrplan, der nur den Zweck hatte, die Strecke möglichst bald stilllegen zu können. Die Verkehrswende kam erst, als die Züge „angebotsorientiert“ unterwegs waren – „jede Stunde, jede Klasse“, wie es in einer Bahnwerbung der Achtziger hieß.
Diesen Mechanismus kennen die konservativen Patriarchen ganz genau. Einen Krippenplatz für all jene verlorenen Mutterseelen, die ihr Kind schon jetzt partout aus dem Haus haben wollen: Das können sie gerade noch akzeptieren. Aber eine wirkliche Wahlfreiheit, ein Angebot mit vielen leeren Plätzen, die jederzeit gefüllt werden können: Das haben sie am Montagabend verhindert.