■ Die Pflegeversicherung ist unter Dach und Fach: Kompromiß mit unabsehbaren Folgen
Jetzt könnte Norbert Blüm wirklich zurücktreten. Denn sein Lebenswerk, die Pflegeversicherung, für die er unverdrossen Niederlagen, Peinlichkeiten und seltsame Kompromisse in Kauf genommen hat, ist unter Dach und Fach. Nach Jahren zäher Grundsatzdiskussionen und nach monatelangem taktischem Gezerre war der Druck des bevorstehenden Wahlmarathons groß genug, um die Sache doch noch zu besiegeln. Ein Scheitern der Pflegeversicherung, das hätte sicher neuen Stoff für Wahlabstinenz und Abwendung von den beteiligten Parteien geliefert. Diesen Schaden haben Blüm, Scharping, Schäuble, Solms immerhin vermieden. Daß niemand einen besonderen parteipolitischen Blumentopf mit dem Ergebnis gewinnen wird, ist jedoch nur zu gerecht.
Das Schaustück mit den ungezählten Akten ist sicher kein Ausweis für Politiker und Parteien, die ungelöste Probleme mit Weitblick und Mut gestalterisch anpacken. Das Ende der Aufführung entspricht ihrem Verlauf: Immer wenn ein Problem gelöst schien, tat sich das nächste unerbittlich auf und wurde mit heißer Nadel bearbeitet. Gegen die Überzeugung der FDP einigte sich die Koalition auf das Sozialversicherungsmodell und entdeckte die Notwendigkeit der Kompensation, des Kostenausgleichs für die Arbeitgeber. Die SPD konnte sich erst vor wenigen Monaten aus der Haltung lösen, sich mit Verweis auf die jeweiligen Untaten (Karenztage und Lohnabschläge) der Regierungsparteien vor ökonomisch vertretbaren eigenen Ideen zu drücken. Scharping durchbrach die Widerstände im eigenen Lager mit einem unerbittlichen Interesse am Kompromiß. Seine Devise, daß die SPD sich in allen wichtigen Fragen so zu verhalten habe, als trüge sie die Regierungsverantwortung, stand bei den Pflegeverhandlungen auf dem Prüfstand. Nicht weniger brauchte die Union, die wirklich regiert, ein Resultat – vor allem diese Zwänge brachten die Lösung.
Und die Sache selbst? Die Pflegeversicherung erleichtert das Schicksal der Menschen, die im Alter in Abhängigkeit geraten, obwohl sie sich eine gute Rente erarbeitet haben. Sie schafft, was nur begrüßt werden kann, bescheidene Rentenansprüche für diejenigen, die pflegen, also vor allem für Frauen. Doch in die Erleichterung mischt sich Besorgnis. Das beschlossene Modell heißt: Die nächste Generation, die schon mit unseren Renten Mühe haben wird, muß außerdem Pflegeleistungen tragen, deren Umfang unabsehbar ist. Wer miterlebt hat, wieviel Mühe allein die Finanzierung der allerersten Pflegestufe gekostet hat, dem kann bei dieser Aussicht nur angst und bange werden. Tissy Bruns
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