„Die Not der Bauern propagandistisch genutzt“

NS-VORLÄUFER Bewusst wollte die Landvolkbewegung den Nazis in Schleswig-Holstein nicht den Boden bereiten. Antisemitismus und national-völkische Untertöne teilte die 1928 von in Not geratenen, vom Staat enttäuschten Bauern gegründete Bewegung aber schon lange. Die Nazis profitierten davon im hohen Norden

Historiker, schrieb in der jüngsten Festschrift des Arbeitskreises zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein über das Landvolk. Foto: Privat

taz: Herr Morris, hat die schleswig-holsteinische Landvolkbewegung den Nazis bewusst den Boden bereitet?

Alexander Otto-Morris: Bewusst nicht, faktisch sehr wohl – schon aufgrund ihrer antisemitischen und national-völkischen Untertöne. Aber zunächst war die Landvolkbewegung ein unorganisierter Zusammenschluss jener Bauern, die derart in Not waren, dass es zu Ende der Zwanziger/Anfang der Dreißiger zu etlichen Pfändungen und Zwangsversteigerungen kam. Die Bauern protestierten, etliche radikalisierten sich – vor allem jene um Anführer Claus Heim. Sie verübten Bombenanschläge gegen Finanzämter und Privathäuser von Regierungsbeamten. Letztere galten ihnen als Büttel des Systems und des „internationalen Kapitals“.

Wer hat dieses Vokabular aufgebracht?

Die Anführer Claus Heim und Wilhelm Hamkens. Verfangen konnte diese Rhetorik, weil sich die Bauern vom Staat im Stich gelassen fühlten: Die finanzielle Unterstützung blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Zudem lief der Aufschub für Pfändungen und Zwangsversteigerungen zu einem Zeitpunkt aus, als sich die Lage der Bauern nicht verbessert hatte. Das war im Herbst 1928. Kurz darauf entstand – zunächst in Schleswig-Holstein, später auch andernorts – die Landvolkbewegung.

War deren Radikalisierung von Anfang an geplant?

Ja. Heim und Hamkens wollten ihre Berufskollegen explizit „wachrütteln“. Nicht alle standen allerdings hinter den Bombenanschlägen, die nicht nur die Führer ins Gefängnis brachten, sondern auch enorme Gerichtskosten bedeuteten. Anfänglich allerdings hatte die Landvolkbewegung enormen Zulauf.

während die Hallen der Nazis leer blieben.

So war es. Da half es wenig, dass die Nazis behaupteten, der Zulauf der Landvolkbewegung basiere auf der propagandistischen Vorarbeit der Nazis, die die Not der Bauern zuerst thematisiert hätten.

Und dann haben die Nazis dem Landvolk die Leute abgeworben.

Ganz so einfach ging es nicht. Hitlers Verhältnis zum Landvolk war lange ambivalent. Einerseits war diese Bewegung durch ihre Aktivitäten sehr attraktiv. Andererseits bediente sie sich terroristischer Mittel. Und mit denen wollten die Nazis nicht identifiziert werden, zumal Hitler nach seiner Entlassung aus der Haft beschlossen hatte, auf legalem Weg an die Macht zu kommen. Dass sich auch die Nazis illegaler Methoden bedienten, versteht sich. Ich spreche hier vom offiziellen Selbstverständnis der Nazis.

Trotzdem haben die Nazis dem Landvolk aber Methoden und Themen abgeschaut.

Themen teilweise schon. In ihrer Provinzzeitung ist die NSDAP zum Beispiel geschickt auf die Landwirtschaftskrise und auf Landvolk-Prozesse eingegangen, um die Landvolk-Anhänger für sich zu gewinnen. Die Nazis sind in die Dörfer gegangen und haben ihrerseits Veranstaltungen über die Notlage der Bauern organisiert. Dass sie in ihren Reden dann ausschließlich darüber sprachen, dass auch sie gegen das – in den Augen der Bauern hilflose – Weimarer System seien, und dass sie allein die Probleme lösen könnten, steht auf einem anderen Blatt.

Liefen die Landvolk-Mitglieder also massiv zu den Nazis über?

Da die Landvolkbewegung keine Mitgliederlisten hatte, lässt sich dies nicht quantifizieren. Berichte von Polizei und Kreisbehörden legen es aber nahe.

Außerdem waren die Nazis wählbar, während das Landvolk bewusst außerparlamentarisch blieb.

Das waren sie – allerdings warben auch andere Parteien wie die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) um die Gunst der Bauern. Die DNVP war allerdings aufgrund ihrer Regierungsbeteiligung schon Teil des verhassten Weimarer Systems. Die Nazis dagegen waren neu und konnten alles versprechen. Ideologische Parallelen zwischen Nazis und der Landvolkbewegung gab es außerdem schon lange: Die Landvolk-Zeitungen Das Landvolk und Dusendüwelswarf agierten schon lange mit national-völkischen Untertönen. Aufgrund dessen war die NSDAP die Partei, die der Landvolkbewegung letztlich am nächsten kam.

INTERVIEW: PETRA SCHELLEN