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Archiv-Artikel

Die Musik des Zufalls

Von Künstlern und anderen Männern: Die autobiografischen Bezüge sind in Siri Hustvedts Roman „Was ich liebte“ nicht zu übersehen. Unter anderem greift sie den Mord auf, in den ihr Stiefsohn Daniel Auster verwickelt war

von VOLKER FRICK

DICHTUNG. Nach den Romanen „Die unsichtbare Frau“ und „Die Verzauberung der Lily Dahl“ erscheint in diesen Tagen in Deutschland Siri Hustvedts dritter Roman „Was ich liebte“. Es ist die Geschichte einer vermeintlichen Männerfreundschaft zwischen dem Künstler William Wechsler und dem Kunsthistoriker Leo Hertzberg.

Leo ist der Erzähler. Er sieht ein Bild von Bill, einen Frauenakt mit dem Titel „Selbstporträt“. Er kauft es und besucht den Künstler. Sie freunden sich an. Leo, als Einzelkind in Berlin geboren, ist verheiratet mit Erica, beide „die Kinder von Emigranten aus einer untergegangenen Welt“. Bill ist verheiratet mit Lucille Alcott, einer Dichterin. Zu Wechslers erster Ausstellung schreibt Hertzberg einen Essay: „Multiple Ichs“. Beide Frauen werden schwanger. Der Vater von Bill stirbt. Im August 1977 tauchen die Jungs auf: Matthew, Sohn von Erica und Leo, Mark, Sohn von Bill und Lucille, die sich bald scheiden lassen. Mark ist mal bei Lucille, mal bei Bill, der fünf Tage nach der Scheidung an einem 16. Juni die Frau heiratet, die für den Akt „Selbstporträt“ Modell stand: Violet Blom. Sie ist Wissenschaftlerin und veröffentlicht gerade ihre Dissertation über „Hysterie und Suggestion“, arbeitet an einem zweiten Buch über Essstörungen, die sie als invertierte Hysterien versteht. Bill erschafft Installationen zur Hysterie, zu Hänsel und Gretel: Die Hexe ist eine Frau ist eine Kannibalin.

Später erfahren Leserin und Leser: Lucille hat vor Zeiten versucht sich umzubringen, und Violet kann kein Kind bekommen. Erica veröffentlicht ein Buch mit dem Titel „Henry James und die Ambiguitäten des Dialogs“. Leo legt nach: „Eine kurze Geschichte des Sehens in der abendländischen Malerei“. So weit Teil 1.

Teil 2 beginnt mit dem Unfalltod von Matthew, der Trauer und der daraus folgenden Trennung von Erica und Leo. Um diesen kümmern sich dann Bill, aber auch Violet, die ihr zweites Buch publiziert: „Verschlossene Körper“. Aber da ist noch Mark, der Leo Donuts klaut und es abstreitet, der Schulschwierigkeiten hat, der 1,75 Meter ist und darauf angesprochen sagt: „Ich bin kein Mann.“

Leo stellt ihm das verwaiste Zimmer seines toten Sohnes als Atelier zur Verfügung. Nächtliche Raves, weitere Lügen. Mark hängt mit dem Performancekünstler Teddy Giles rum. Dieser stellt neun zerstückelte Leichen aus Polyesterharz und Glasfaser aus. Mark kennt den Geburtstag von Leo, den 19. 02. 1930, kennt so auch die PIN seiner Bankkarte. Mit diesem Wissen bestiehlt er Leo insgesamt um 7.000 Dollar. Das Telefon klingelt und ein Mädchen erzählt, Teddy Giles habe sich einen Jungen gekauft, in Mexiko. Leo arbeitet über Goya. Bill stirbt, nachdem er ein Videoprojekt begonnen hatte, am Ende von Teil 2.

Teil 3 ist die Erzählung des weiteren Absturzes von Mark: Drogen, Rehabilitation. Erzählt werden sein Verschwinden wie auch die Suche nach und der Kampf von Leo um den Sohn seines verstorbenen Freundes. Die Polizei möchte Mark zum Tod von Rafael Hernandez, dem mexikanischen Jungen, befragen. Zerstückelt im Hudson gefunden, identifiziert mittels seines Gebisses.

Leo sieht Mark in Frauenkleidern, und er schaut sich die Videobänder, jene unabgeschlossene Arbeit von Bill, an. Die Aussagen von Mark zu dem Mord erwecken Zweifel an ihrer/seiner Glaubwürdigkeit. Erica schreibt ein weiteres Buch zu Henry James, Violet eines mit dem Titel „Die Roboter des Spätkapitalismus“. Leo arbeitet an einem Buch über Bill und verliert seine Sehfähigkeit.

Einer der letzten Sätze dieses Romans ist „Jede wahre Geschichte hat mehrere mögliche Enden.“

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WAHRHEIT. An einem Sonntag im März des Jahres 1996 befinden sich vier Männer in einem New Yorker Apartment. Einer dieser Männer – ein jedes Klischee erfüllender schwuler kolumbianischer Drogenhändler namens Angel Melendez – wird auf grausame Weise, wie es keine Art ist, ermordet.

Eine Woche später wird die Leiche zerlegt, eingetütet, mit einem Taxi zum Hudson befördert und dort versenkt. In dem Buch „Disco Bloodbath“ (1999) gibt James St. James die für ihn unglaubwürdige erste Schilderung des Mordes von einem der beiden verurteilten Täter ihm gegenüber wieder. Demnach waren an der Tat drei Männer beteiligt. Später sagten die beiden zu 20 Jahren Haft verurteilten Täter (Michael Alig und Robert Riggs) aus, außer ihnen sei keine weitere Person beteiligt gewesen. Weitere Aussagen führten zur Schließung des Clubs Palladium. Drogenverseuchtes Nachtleben, New York, New York, schillernde Persönchen. Ein Theaterstück über das Ereignis, der Film „Party Monster“ mit Marilyn Manson in der Rolle einer Drag-Queen, eine CD mit Musik und Worten (eines der Täter) einer in England beheimateten „Satori Group“: alles auf dem Markt.

Der dritte Mann wurde 1998 nach seinem Eingeständnis der Anwesenheit während des Mordes zu einer fünfjährigen Bewährungsstrafe verurteilt, da er dem Mordopfer 3.000 Dollar gestohlen hatte. Sein Name: Daniel Auster, 1977 geborener Sohn aus Paul Austers erster Ehe mit der Schriftstellerin Lydia Davies.

Am 16. Juni 1982 heiraten der seinerzeit unbekannte Schriftsteller Paul Auster und die am 19. 02. 1955 geborene Siri Hustvedt. Aus dieser Ehe geht eine Tochter hervor: Sophie. In den folgenden Jahren veröffentlicht Siri Hustvedt einen Gedichtband, ist Mitübersetzerin einer Monografie über Dostojewski aus dem Norwegischen, ist an einem dreibändigen Werk mit dem Titel „Fragments for a History of the Human Body“ beteiligt und schreibt ihre Dissertation über Charles Dickens: „Figures of Dust: A Reading of Our Mutual Friend“.

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KUNSTLEBEN. Im ersten Kapitel des Romans „Was ich liebte“ tauchen annähernd 30 Namen von Künstlern auf … Manet, Hopper, Salle, annähernd 20 Schriftsteller … Ovid, Beckett, Dickens, annähernd noch mal jeweils 10 Philosophen … Wittgenstein, und Musiker … Talking Heads. In einem Interview mit der norwegischen Zeitschrift prosopopeia sagte die Autorin: „Good storytellers tell enough without telling too much.“ Ihr jüngster Roman, an dem sie sechs Jahre gearbeitet hat, besticht hingegen durch eine Überfülle an Geschichten (das Buch ist einfach zu dick). Sie ergeben ein Geflecht, dessen Ganzes man als Familiengeschichte(n) lesen mag, allein es ist ein Roman, der den Verlust thematisiert, den Tod und zweifellos die Kunst des Lebens.

Der männliche 68-jährige Erzähler Leo Hertzberg als Alter Ego der Autorin (beide haben am gleichen Tag Geburtstag). Sein Freund, der Künstler Bill Wechsler, trägt Züge des Mannes der Autorin. Den 16. Juni, an dem Paul Auster und Siri Hustvedt wie auch die Romanfiguren Bill und Violet heiraten, erklärt uns der Erzähler mit dem Verweis, das Violet Blom sich nur mit einem o schreibt. Somit stößt er uns natürlich mit der Nase auf den 16. Juni 1904. An diesem Tag spielt „Ulysses“ von James Joyce, seitdem bekannt als Bloomsday. Die Kunstwerke von Bill werden en detail und langatmig vor Augen geführt, somit aber fiktive Kunstwerke via einen Roman in die Wirklichkeit gehoben, wie überhaupt Rückbindungen in die autobiografische Wirklichkeit bis zum Erbrechen vorhanden sind.

Denn wenn auch in diesem Buch das Thema der Vermischung von Identitäten offenbar wird, wenn die Abwesenheit und der darin liegende Verlust angesprochen, wenn beschrieben wird, wie differenziert menschliches Sehen, wie trügerisch die Erinnerung ist, so bleibt eher der Eindruck der Verwischung.

Das Thema der Hysterie nicht als pathologisch psychische Erkrankung und schon gar nicht nur des weiblichen Geschlechts, sondern als eine Modeerscheinung, wie Essstörungen, verliert sich im Verlauf des Romans. Es ist cool, krank auszusehen. Symptomübernahme durch Identifikation oder Nachahmung. Aber da ist dann ein pubertierender Junge auf dem Weg in die Adoleszenz, auf der Suche nach einer Identität. Und hier transformiert sich die erzählte Theorie in die fiktionale Wirklichkeit eines Jungen, der die Scheidung seiner Eltern durchsteht, aber sich der Realität außerhalb seiner selbst chamäleonartig anschmiegt. Als Leo Mark einmal fragt, was er sich am meisten wünsche, antwortet dieser: „gemocht zu werden“. Anerkennung, Liebe. „Was ich liebte“ heißt dieser Roman, und das klingt nach Rückblick einerseits, aber andererseits auch nach einem Abschluss. Kunsthistoriker reden selten über Kunst, und Künstler reden über alles Mögliche.

Dieser Roman ist kunstvoll, aber auch artifiziell und leblos, und doch intellektuell anregend. Dem Konzept der Vermischung von Wahrheit und Dichtung in diesem Buch der Erinnerung fehlt nicht die Klarheit der Trauer (fast ergreifend erzählt Leo die Trennung von Erica wie auch den Tod von Bill). Doch dem erzählten Augenblick fehlt die Kraft, die Bilder des Vergangenen von einer banalen Musik des Zufalls zu befreien: Es birgt mehr als nur einen Moment von Tragik, wenn Siri Hustvedt die Geschichte, jenes kritische Ereignis ihres Stiefsohns Daniel in ihren Roman implementiert. Man möchte ihn fragen, was er davon hält, man möchte seine Mutter fragen, was sie davon hält.

Ein ambitionierter Roman, und damit ist alles gesagt. Bis auf den schönsten Satz des Romans: „Ich bin mir nicht sicher, ob Liebe alles entschuldigt.“

Siri Hustvedt: „Was ich liebte“. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller, Erica Fischer und Grete Osterwald. Rowohlt 2003. 480 S., 22,90 € Siri Hustvedt ist auf Lesereise: Berlin (18. 1.), Köln (20. 1.), Stuttgart (21. 1.), Zürich (22. 1.), München (23. 1.)