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Ausgehen und rumstehen Von Verena HarzerDie Motte aus dem Kaffeeschleim

Foto: Archiv

Eine Ruine …?“ „Ein Geist …?“ „Nein, sieht aus wie eine Taucherbrille.“ Meine Freundin Barbara und ich starren in die Espressotasse. Dort haben sich Spuren im Kaffeesatz des türkischen Mokkas gebildet. Die gilt es zu interpretieren.

Wir sind Teil der partizipativ-performativen Lecture „Spell for Beginners: Summoning a Ghost Database“, die an diesem Abend beim 100°-Diaspora-Festival im oberen Foyer des Berliner Festspielhauses gezeigt wird.

Die Performance der griechischen Künstlerin Theemetra Harizani beginnt mit einem Vortrag. Thema: Kaffeesatz­lesen. Harizani spricht über die spirituellen, kulturellen und sozialen Hintergründe. Darüber, wie die Tradition für griechische Frauen aus dem Arbeitermilieu eine Gelegenheit war, über Dinge zu reden, die sonst tabu waren.

Harizanis Mission: Sie will die Tradition des Kaffeesatzlesens wiederbeleben. Darum startet sie jetzt den Praxisteil ihrer Performance. Dutzende Espressotassen stehen bereit. Barbara und ich holen uns eine. Der Prozess geht so: Austrinken, die Tasse auf die Untertasse stürzen, Tasse heben, reinschauen, Kaffeesatz lesen.

„Ein Engel!“, ruft Barbara, jetzt überzeugt. Auch ich schaue nochmal genau hin. Und sehe etwas ganz anderes. Das ist kein Engel, was sich da in dem körnigen Kaffeeschleim in der Tasse abzeichnet. Die großen, zweigeteilten Flügel, der dicke, pelzige Körper, der sie miteinander verband, das ist … na klar, ganz eindeutig: eine Motte.

Obwohl, Moment – das ist auch keine Kaffeesatz-Motte. Da bewegt sich doch etwas. Tatsächlich. Ein echter Nachtfalter erhebt sich aus meinem Kaffeeschleim. Mit ein paar Schlägen seiner Flügel befreit er sich von den klebrigen Kaffeekörnern. Mit einem davon gibt er mir ein Zeichen, ihm zu folgen.

Ich zögere. Ist es der Künstlerin gegenüber fair, einfach mit einer Motte durchzubrennen? Aber jetzt zwinkert der Falter noch dazu sehr überzeugend. Ich lasse los.

Der Falter und ich fliegen über die rauschenden Kastanienbäume vor dem Berliner Festspielhaus hinweg und weiter über den Bahnhof Zoo, der wie eine dicke, graue Raupe auf seinen Schienen sitzt.

Wir fliegen einmal um den neuen Turm der Nashornhauses im Berliner Zoo herum, machen einen kurzen Zwischenstopp auf dem bronzenen Haardutt der „Amazone auf dem Pferd“ im unteren Teil des Tiergartens und landen schließlich auf einer großen Wiese gleich neben der Statue.

Auf dieser Wiese gehen seltsame Dinge vor sich. Jeweils ein paar Dutzend Menschen drängen sich vor vier oder fünf auf der Wiese verteilten weißen Leinwänden, die an wackeligen Metallständern aufgehängt sind. Angestrahlt werden sie von einem bläulichen Licht. Ich nähere mich den Leinwänden. Sie sind voller unterschiedlich großer, dunkler Punkte. Die Menschen davor unterhalten sich angeregt. Satzfetzen wie „Nein, das ist kein Spinner, zu kleine Hinterflügel, das muss ein Spanner sein.“ Oder: „In Nordamerika, da gibt es abgefahrene Teile. Aber wir haben hier immerhin die Weinschwärmer – die sehen aus wie rosa Plüschsofas.“

Wo bin ich hier gelandet? Was ist das für ein seltsamer Ort? Da fällt es mir wieder ein: Die Nachtfalterführung im Tiergarten vor gut zwei Wochen, am Tag der langen Stadtnatur. Der Abend, an dem sich gut hundert Menschen stundenlang, bis spät in der Nacht, für nichts anderes als Motten begeistert konnten. Und ich mit.

„Verena, pass auf, der Kaffee tropft.“ Barbara holt mich zurück ins obere Foyer der Berliner Festspiele. In meiner Hand halte ich immer noch die Espressotasse, auf meiner Hose ein bröseliger brauner Fleck. Ich blicke Barbara an und sage: „Du hast recht, das war wirklich ein Engel.“

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