■ Die Leiden des David Gow – oder: Wie ein ausländischer Korrespondent den bundesdeutschen Wahlkampf erlebt: Die Wende kommt – später
Hilfe! Wir brauchen Hilfe! In knapp drei Wochen ist es soweit; wir können aus unserem tiefen Schlaf aufstehen und eine neue Kohl-Ära begrüßen. – Sperrfrist Sonntag, der sechzehnte Oktober, 18 Uhr, lautet das strikt geheime Papier in meiner Aktentasche. – Aber bis dahin müssen wir, einheimische und ausländische KorrespondentInnen, eine lange Durststrecke zurücklegen; im Klartext, einen der langweiligsten, oberflächlichsten, inhaltslosesten Wahlkämpfe seit langer Zeit begleiten. Keine Schlaftabletten mehr, bitte, wir brauchen Amphetamine!
Deutschland, mitten im Herbst, 1994. Schönes Land der Mitte, Vorreiter der europäischen Integration, wieder einmal die Lokomotive des Wachstums. Doch es ist eben so, die Bundesbank betont es gerade wieder in ihrem jüngsten Monatsbericht, das Land ist immer noch auf der Suche nach seinem angemessenen Platz in der Welt. Immer noch als führende Nation zwischen Halbwuchs und Erwachsensein, Groß-Schweiz und hegemonialer Macht. Die Nummer 1 in Europa, schwärmt der arme Clinton; Vorsicht, sagt der souveräne Dicke. Immer noch erfreulich unsicher, weltoffen, manchmal charmant, manchmal besorgniserregend, häufiger provinziell und larmoyant.
Es gibt fast keinen Hauch von solch unterirdischen, doch kaum zu übersehenden Themen in diesem Wahlkampf. Fast ist es, als ob sich das vereinte Deutschland, Ost als auch West, nicht in einem schwindelerregenden Prozeß der sozialen und wirtschaftlichen Modernisierung befände. Die Gesellschaft, ob in Torgau oder Passau, hat sich weitgehend und tiefgreifend verändert; die politischen Strukturen jedoch, ausgerechnet die Parteien, sind verkrustet und veraltet.
Edmund Stoiber, der letzte der drei Könige nach Biedenkopf und Stolpe, rollt in einer mit glänzend weißen Gladiolen bedeckten Kutsche im Münchener Oktoberfestzug vorbei, so als ob er Dame Edna wäre. Niemand erkennt ihn, aber der gefilmte Augenblick macht später Werbung für ihn in den Nachrichten.
Einige Kilometer nördlicher, in einem postmodernen Sport- und Modezentrum, erlebt Joschka Fischer Entzugserscheinungen: Die Grünen, aufgeschlossen, diszipliniert, grau, tagen hinter verschlossenen Türen und diskutieren, ohne Ironie, aber auch ohne Zuversicht, ihr Programm für den Machtwechsel.
Manchmal spinnen sie noch, diese vernünftigen Grünen mit ihren Aussagen zur Verkehrs- oder Sicherheitspolitik. Aber zumindest stellen sie Themen in den Vordergrund ihrer Kampagne und wollen sich darüber mit den Menschen auseinandersetzen. Fast, aber nur fast genauso geschieht es mit den Sozis, die, wie in den sechziger und siebziger Jahren unter Willy Brandt, die Modernisierung vorantreiben und den Gemeinsinn wiedereinschalten wollen.
Aber warum ist ihre Kampagne so lustlos, mies und amateurhaft? Und wer von den drei Spitzbuben auf dem Plakat ist der Wunschkandidat? Rudolf, der eigentliche Mann Nummer 1, verrät mit seiner verkrampften Körpersprache und seinen Anstrengungen, locker zu sein, gerade seine Schwächen. Goodbye Land of Hope and Glory. Hallo Niedersachsen?
Bleibt der große Star, der Gregor, der Werbung genug gehabt hat – von den anderen Parteien und den beiden Amtsinhabern. Der Klaus rast durch das Land und das Ausland, bergauf, bergab, und schreit, wir stehen auf und kämpfen. Na, um was? Ein bissel Deregulierung hie, ein bissel Steuersenkung da, Leistung über alles und vergiß nicht die Toleranz? Diesmal geht's um alles heißt Posten auf der Regierungsbank, Steuergeld auf dem Konto und schlichtes Überleben à la Darwin. Ohne Kinkel kein Kohl?
Und Kohl. Und der Alte? Der schwebt über das Land, über die ganze Welt, wie auf einer Wolke jenseits des Alls. Und erscheint ab und zu auf den Bildschirmen der Nation – Eigentum, Leo Kirch – oder auf dem Marktplatz seinen Leuten wie ein sehr körperliches, aber doch unfaßbares Gespenst. Er hat kein Regierungsprogramm außer Angriffen auf Gysis bunte Truppe, er hat auch keine Partei mehr, geschweige denn einen möglichen Nachfolger. Der Kanzler kommt, gibt einige Soundbites und gewinnt. Time for a change? Nein, danke, keine Experimente. Weiter so, Deutschland. Und aus allen Ecken Europas läuten die Glocken: Erleichterung. Hilfe, bitte, gib mir eine aufregende Story...
Nun, ist die Erleichterung vielleicht nicht doch ein bißchen verfrüht? Beweisen nicht die jüngsten Umfragen eine gewisse Stagnation oder sogar einen Abwärtstrend bei der Union? Der Kanzler spürt sie, diese wachsende Unsicherheit unter den Wählern, ob sie überhaupt eine Fortsetzung seiner Koalition mit den überflüssigen Liberalen wollen. Sie ist ihm bewußt. Selbst wenn, wie am vergangenen Freitag, er von siebentausend jubelnden Anhängern im Gerry-Weber-Stadion in Halle/ Westfalen zum Himmel begrüßt wird. Drei jugendliche Blaskapellen begleiten seinen Eintritt mit Trompetenstößen, es ist wohl wahr, Preußens Gloria. Du meine Güte! Und der Kohl, nach seinem Bad in der Menge, enttäuscht die WählerInnen auf dem Centre Court des deutschen Wimbledon mit einer flauen, müden Rede, in der sein Provinzialismus wieder die Oberhand über die weltpolitischen und staatsmännischen Einsichten gewinnt.
So ist er, dieser Eichenschrank.
Aber heißt das denn gleich: „Die Ära Kohl ist auf jeden Fall beendet“, wie es Claus Leggewie im jüngsten Spiegel ohne Wenn und Aber behauptet? Leggewies Wunsch war vielleicht doch Vater des Gedankens. Aus fremder Sicht ist eines klar: die Deutschen streben den Wechsel an – aber noch nicht. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist der deutsche Modernisierungsprozeß längst überfällig. Doch selbst eine hervorragende Kandidatin wie die bayerische SPD-Frau Renate Schmidt kann nicht die Kinder- Küche-Kirche-Mentalität ihres antifeministischen Landes überwinden.
Mag sein, wie Leggewie sagt, daß die Zeit politischer und sozialer Reformen erst noch komme. Die Deutschen jedenfalls bleiben selbstzweifelnd und unsicher. Der Wechsel, der change, er läßt sich mehr und mehr in Form einer großen Koalition im deutschen Herbst 1994 skizzieren. Wohl erst 1998 wird er dann wirklich kommen... David Gow
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