Die Jacken des Bertolt Brecht

In den „Memoiren eines Moralisten“ entwirft Hans Sahl ein Porträt der Weimarer Republik. Er beschreibt Stalinismus und Nationalsozialismus aus der Perspektive eines undogmatischen Marxisten – im gefühlten „doppelten Exil“

Sahl schildert den Kulturschock im US-Exil: Rückwärtsgewandt- heit traf auf zukunftsorientierten Optimismus

VON FRIEDHELM LÖVENICH

Hans Sahl, der Essayist und Feuilletonist der Weimarer Republik, der Filmkritiker der Frühphase des internationalen Films und der Theaterkritiker einer der fruchtbarsten Epochen des deutschen Theaters, der selber Stücke, Drehbücher, Romane und Gedichte schrieb – er musste wie so viele andere aus Deutschland fliehen, weil er eigentlich Hans Salomon hieß. Die Erinnerungen „Memoiren eines Moralisten“ behandeln seine Lebensetappen, beginnend mit der Weimarer Zeit in Berlin bis zur Machtergreifung, danach das Exil in Europa und in den USA, das weit über den Krieg hinaus anhielt; der späten Rückkehr nach Deutschland 1989 sind nur wenige Seiten gewidmet.

Merkwürdige Anekdoten längst dem Gedächtnis entschwundener Berühmtheiten finden sich in diesem Buch. Zum Bespiel die, wie er von der exzentrischen Tänzerin Valeska Gert in ihrem Hotelzimmer eingesperrt wurde, um deren Biografie zu schreiben, und wie er dann auch noch den Postillon d’Amour zwischen ihr und Sergej Eisenstein zu spielen hatte, der als sowjetischer Vorzeigeregisseur kostbare Seidenhemden und Anzüge aus teuren englischen Stoffen besaß. Und man erfährt mehr oder weniger ernüchtert – wenn es dieser Entzauberung noch bedurfte –, dass das Proletkult-Vorbild Bertolt Brecht, der hier alles andere als gut wegkommt, Arbeiterjacken trug, die für ihn maßgeschneidert wurden.

Hans Sahl gehörte der linken Szene der Weimarer Republik an, ein undogmatischer Marxist, der sich des Öfteren schwertat mit der Kommunistischen Partei, der er nie beitrat, und der einen Spruch wie: „Stalin denkt für uns“, den sein berühmter Freund Egon Erwin Kisch im Pariser Exil angesichts des Hitler-Stalin-Paktes absonderte, niemals über die Lippen gebracht hätte. Sahls Erinnerungen lassen deutlich werden, wie für ihn und viele andere, die als junge Intellektuelle große Hoffnung auf das sowjetische Modell gesetzt hatten, die emotionale Verbindung mit dieser Weltanschauung angesichts des anwachsenden Stalinismus, der auch enge persönliche Freundschaften zerstörte, zunehmend schwand.

Leider hat Sahl diese Aufzeichnungen erst spät geschrieben – zu spät, weil in seinen Achtzigern vielleicht bereits die Arbeitskraft fehlte, das Ganze noch gestalterisch zusammenzufügen. Der Text ist daher oft unzusammenhängend, zersplittert, sprunghaft, vermutlich wegen des Tonbanddiktats, dessen er sich bedienen musste, weil sein schwindendes Augenlicht ihm ein Arbeiten am Text nicht mehr so erlaubte, wie es für ihn und uns wünschenswert gewesen wäre. Viele der Notizen sind oft zu knapp. Man hätte gerne ausführlicher über die dort beschriebenen Vorgänge oder Personen gelesen, die so nur wie von Blitzlichtern erleuchtet auftauchen aus dem Dunkel der Geschichte, in das sie mittlerweile versunken sind. Immerhin verleiht dieses Holzschnittartige dem Erzählten den dokumentarischen Charakter des Glaubwürdigen und Wahrhaftigen, Nichtgeschönten.

Manchmal erinnert das Buch an Ernst Blochs „Spuren“ oder manche Medaillons von Benjamin oder Kracauer, die in feuilletonistischer Zuspitzung das Wesen ihrer Gegenwart auf den Begriff bringen oder ins Bild setzen konnten. Wie ein Tauchgang in eine Welt, die es nicht mehr gibt, muten seine Notizen an: Auf dem Meeresgrund liegen Trümmer der Vergangenheit, historische Ereignisse und Gestalten, und die berühmten Namen schwimmen in diesem Korallenriff der Geschichte umher wie bunte Fische: Franz Werfel, George Grosz, Kurt Tucholsky, Wilhelm Furtwängler, Joachim Ringelnatz, Alfred Wolfenstein, Alfred Döblin, Anna Seghers, Bertolt Brecht, Willi Münzenberg, Ernst Toller, die Manns und viele andere weniger bekannte, aber umso interessantere. Das Personenregister enthält an die tausend Namen; die häufigsten Nennungen verzeichnet Hitler, und das ist symptomatisch für die Bedeutung, die jene zwölf Jahre für das gesamte Leben dieser Generation besaßen.

Selbst wenn vieles von dem, was Sahl aus einer Hochzeit der deutschen Kultur zu berichten weiß, uns heute vielleicht idyllisch in den Ohren klingt – auch in diesen Gefilden fanden Auseinandersetzungen und Kriege statt, zuerst in den Köpfen, dann in den Straßen, zum Schluss auf den Schlachtfeldern. Vielen schien dies damals nicht bewusst gewesen zu sein. Durch die Geschichte belehrt, sieht Sahl für die Heraufkunft des Nationalsozialismus daher auch diejenigen – und damit sich selbst – belastet, die im Glitter und Flitter der hohen Kultur schwelgten und für die (Un)kultur der Massen keinerlei Gespür besaßen, ja deren politische Gefahr nicht ahnten: Er beschreibt „den Selbstmord einer Epoche, der bereits lange vorher stattgefunden hatte, als man nämlich die Welt, in der man lebte, für Wirklichkeit hielt und von jener anderen, die sich anschickte, sie zu zerstören, nicht Notiz nehmen wollte“.

Die Seiten über das Exil schildern, was Macht und Gewalt Menschen antun können, die als Sandkorn durch den Sturm der Geschichte getrieben werden. Auch hier ist es mit Solidarität und gegenseitiger Hilfe oft nicht weit her, nicht einmal in einer extremen Situation wie der eines Lagers in Frankreich. Hier wird den Insassen, die als Zwangsarbeiter einen Flugplatz auszubauen hatten, die Freilassung und Urlaub in Paris geboten gegen den Eintritt in die Fremdenlegion; und die, die sich nicht dazu entschlossen hatten, wurden gemobbt von den zukünftigen Afrikakämpfern, mit denen sie doch seit Monaten im selben Lager eingesperrt waren – ein Paradebeispiel menschlicher Niedertracht, der Faschismus der vor dem Faschismus Geflohenen: „Unter dem Gejohle der anderen, die rauchend in den Fenstern lagen und uns verhöhnten, versammelten wir drei uns jeden Morgen um sechs Uhr und traten den Marsch zum Flugplatz an, bewacht von vier Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, beschimpft und bespuckt von denen, die eben noch unsere Freunde waren und die jetzt mit Flaschen und Steinen nach uns warfen …“

Das Exil schrieb Geschichten, die als Roman niemand einem Schriftsteller abnehmen würde, Geschichten „vom Leben und Sterben einer Kultur, die in unserem Leben und Sterben ihren sinnfälligen Ausdruck finden sollte, einer glanzvollen Epoche, die wir aus dem Feuer des Untergangs zu retten versuchten und durch halb Europa trugen, in Kleidern, die selbst schon zu brennen anfingen“.

Einigen Glücklichen gelang die Flucht aus dem brennenden Europa in die USA, wohin sie versuchten, ihre Kultur auf dem Rücken mit hinauszuretten wie Äneas seinen Vater Anchises. Aber dort trafen sie, die Rückwärtsgewandten, die wie der von Walter Benjamin so geliebte „Angelus Novus“ von Paul Klee mit dem Gesicht zur Vergangenheit in die Zukunft trieben, auf eine Kultur des der Zukunft zugewandten Optimismus, der ihr Leiden am Gegenwärtigen überhaupt nicht zu erfassen in der Lage war. Das rettende Gestade erschien allzu bald als ein Land ohne Kultur, Stil und Würde, und Sahl schildert den Kulturschock, den living in America für viele Exilanten bedeutete; ihnen kamen die USA manchmal wohl wie ein Faschismus mit menschlichem Antlitz vor, woran möglicherweise auch die schöne Zeit in der Künstler- und Intellektuellenkolonie von Provincetown am Cape Cod nichts ändern konnte.

Denn nicht unähnlich der polarisierenden Situation in der Endphase der Weimarer Republik erging es Sahl auch in den USA, als er einen kritischen Artikel gegen den Abstrakten Expressionismus veröffentlichte, der ihn aus der Kunstszene geradezu hinauskatapultierte in den luftleeren Raum, genauso wie den weiterhin gegenständlich malenden – und heute rehabilitierten – Edward Hopper.

Sahl arbeitet in den USA als Korrespondent für deutschsprachige Zeitungen und als Übersetzer aktueller englischsprachiger Literatur wie der von Thornton Wilder, Tennessee Williams und Arthur Miller. Als er in den Fünfzigerjahren nach Deutschland zurückkehrt, will dieses Land ihn nicht und lässt ihn sich „zu Hause“ fremder fühlen als im amerikanischen Exil, in das er daraufhin ein zweites Mal flieht. Erst 1989, mit 87 Jahren, übersiedelt er nach Tübingen, das noch so aussah wie manche der Kleinstädte, die er aus der Zeit vor dem Krieg kannte, und stirbt dort vier Jahre später.

Hans Sahl: „Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil“. Luchterhand Verlag, München 2008, 512 Seiten, 21,95 €