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Die Infas-Analyse zu den BundestagswahlenTriumph und Erdrutsch

■ Die immerwährenden wundersamen Wahlwanderungen der Wählerschaft

Angesichts der historischen Bedeutung der ersten gesamtdeutschen Wahl mutet es merkwürdig an, daß die Wahlbeteiligung (mit 78,5 Prozent im westlichen, 75,1 Prozent im östlichen Wahlgebiet) kaum höher war als bei Landtagswahlen und daß — jedenfalls im westlichen Teil — dramatische Bewegungen ausblieben. Kaum je hatte ein großes Ereignis auf den ersten Blick so wenig sichtbare Folgen. Im Gebiet der alten Bundesrepublik lagen die Veränderungen gegenüber der letzten Bundestagswahl vom Januar 1987 im Bereich zwischen 0,1 (für die CDU/CSU) und 3,5 Punkten (für die Grünen/AL).

Die Wanderungsbilanz weist allerdings für das westliche Wahlgebiet einige Bewegungen auf, die in den Nettoveränderungen nicht erscheinen. Sie sind charakterisiert durch einen wahren Ringtausch zwischen links und rechts. Den Angelpunkt bilden dabei die Liberalen, die von allen Seiten Zulauf erhielten. So hat die Union von der SPD im Saldo eine halbe Million Stimmen, von den Grünen nochmal 140.000 gewonnen, zugleich aber Abwanderungen an die Republikaner (rund 330.000 Wähler) zu verzeichnen. Die SPD hat im Austausch mit den Grünen rund 600.000 Stimmen gewonnen, aber neben den Verlusten an die Union auch Wähler an die FDP (rund 420.000) und ebenfalls an die Republikaner (rund 110.000) verloren. Die FDP konnte von allen Seiten, auch von den Grünen, Wähler mobilisieren. Die Grünen dagegen, einstmals Wachstumspartei ungeachtet aller Zeitströmungen, haben Einbußen in allen Richtungen gehabt.

Besonders auffällig ist der unterschiedliche Effekt der im Westgebiet insgesamt um über fünf Punkte gesunkenen Wahlbeteiligung. Von den früheren SPD-Wählern sind besonders viele zu Hause geblieben — dies schlug mit einem Verlust von rund 550.000 Stimmen zu Buche. Die Grünen konnten etwa 270.000 ihrer früheren Anhänger nicht mobilisieren. Trotz der allgemein verbreiteten Siegesstimmung machte die Wahlmüdigkeit der CDU/CSU und der FDP weit weniger zu schaffen. Die Union büßte 180.000, die FDP 75.000 Stimmen durch Wahlenthaltung ein.

Diese Bewegungen hat es in allen Teilen der alten Bundesrepublik gegeben, in einigen Regionen jedoch weit stärker als in anderen. Der genauere Vergleich zeigt, daß diese regionalen Unterschiede stärker zu Buche schlagen als Besonderheiten der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur. Völlig aus dem Rahmen ist diesmal das von Oskar Lafontaine regierte Saarland gefallen. Ganz gegen die übrigen Trends hat hier die SPD 7,7 Punkte gewonnen, die anderen Parteien haben verloren (CDU 3,1, FDP 0,8, Grüne 4,8 Punkte); die Wahlbeteiligung lag mit 85 Prozent klar über der aller anderen Länder.

Das Gegenbild zum Saarland mit dem lokalpatriotisch gefärbten SPD- Bonus für den Spitzenkandidaten liefert das Ruhrgebiet, wo teilweise ähnliche Wirtschaftsstrukturen anzutreffen sind. Hier hat die SPD Verluste von 3,7 Prozentpunkten zu verzeichnen.

CSU: Punktverlust im Heimspiel

Wieder anders verliefen die Trends in Bayern. Hier verlor die vor sieben Wochen siegreiche CSU 3,2 Punkte, die Republikaner dagegen erreichten ihr Landtagswahlresultat vom 14.Oktober 1990 (4,9 Prozent). Innerhalb von Bayern fielen die CSU- Verluste in Niederbayern, Oberbayern und Schwaben mit 4,7 bzw. 4,2 Prozentpunkten besonders hoch aus. Dort zogen die Republikaner fünf bis sechs Prozent der Wähler an sich.

Die Verluste der Grünen in den Hochburgen

Besonderheiten sind auch für die beide Stadtstaaten Hamburg und Bremen zu vermelden. Hier, in den ehemaligen Hochburgen der Grünen, waren ihre Einbußen besonders gravierend. In Bremen dezimierten sie sich um 6,2, in Hamburg um 5,3 Prozentpunkte. In der Elbestadt blieb die SPD von Verlusten weitgehend verschont, an der Weser hatten die Sozialdemokraten die größten Rückgänge unter den Bundesländern zu verzeichnen. In den Hansestädten profitierte die PDS von dem Zusammenbruch des linksalternativen Wählermilieus mit 1,0 (Bremen) und 1,1 Prozent (Hamburg). In beiden Ländern legte die FDP überdurchschnittlich zu (0,4 bzw. 2,4 Prozentpunkte), während die CDU in Hamburg zurückstecken mußte (-0,8Prozentpunkte), in Bremen dagegen mit plus 2,5 Prozentpunkten nach Niedersachsen (+2,8) den höchsten Zuwachs im Vergleich der alten Bundesländer erzielte.

In Ostdeutschland sind die Wählerbewegungen in anderen Bahnen verlaufen. Bemerkenswert dabei: Das Volumen der Wanderungen fiel, angesichts der weit geringeren Größe des Wahlgebiets, vergleichsweise höher aus. Gegenüber der Volkskammerwahl im März ging die Wahlbeteiligung um 18 Prozentpunkte zurück. Sie war etwas niedriger als im westlichen Wahlgebiet. Dieser Rückgang hat vor allem die Unionsparteien mit fast einer Million, aber auch die PDS und SPD mit jeweils rund einer halben Million Stimmen getroffen.

Wahlmüdigkeit in Ostdeutschland

Im Unterschied zu Westdeutschland haben in Ostdeutschland lagerinterne Wähleraustauschbewegungen dominiert. Fast die Hälfte der DSU- Stimmen vom März sind am 2.Dezember 1990 zur CDU gegangen (rund 300.000), die ihrerseits per Saldo etwa 250.000 Wähler an die FDP abgeben mußte. Die SPD hat von der PDS rund 260.000 Stimmen gewonnen, dagegen — über Lagergrenzen hinweg — an die FDP rund 90.000 abgegeben. Bündnis 90/Grüne haben auch die Lagergrenzen überwunden und von allen anderen Parteien Zulauf erhalten. Die PDS wurde von allen Seiten gebeutelt. Die meisten Wähler machten sich in Richtung SPD davon.

Bei CDU und FDP gab es nur wenig prozentuale Veränderungen in der Summe der sechs Länder. Die SPD hat 2,1 Prozentpunkte zugelegt; die CDU-Gewinne (1,3 Prozentunkte) wurden durch die DSU-Verluste (5,4 Prozentpunkte) weit übertroffen. Gegenüber der Volkskammerwahl vom März 1990 sind CDU und DSU heute um vier Prozentpunkte schwächer. Wenn als Vergleich die Landtagswahl vom 14. Oktober herangezogen wird, weichen die Ergebnisse vom 2. Dezember weit weniger davon ab: CDU +0,2 Prozentpunkte, DSU -1,2 Prozentpunkte, SPD -1,7 Prozentpunkte.

Bei den übrigen Parteien haben sich zwischen diesen drei Wahlen dieses Jahres jedoch stärkere Verschiebungen ergeben, die gleichwohl das Parteiensystem in der ehemaligen DDR beim vierten Wahlgang innerhalb von neun Monaten konsolidiert haben. Die PDS hatte in den fünf neuen Ländern (ohne Berlin) zwischen März und Oktober 3,7 Prozentpunkte eingebüßt, seitdem nur noch weitere 1,6 Prozentpunkte. Das ist angesichts der Affären um das Finanzgebaren bei der Sicherung des ehemaligen SED-Vermögens als ein Erfolg anzusehen. Auf der anderen Seite hat die FDP seit den Landtagswahlen kräftig zugelegt, vor allem im Süden des Landes, wo CDU und DSU zusammen stärker zurückgegangen sind. Als Außen- und Einigungsminister hat Genscher den Spagat geschafft, von den Menschen dort als beides akzeptiert zu werden, als Politiker für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen.

Von besonerem Interesse sind die Verschiebungen in den beiden Ländern, in denen sich im Oktober die politische Landschaft deutlich verändert hatte. In Brandenburg konnte die SPD ihre Erfolge vom 14. Oktober ebenso wenig staliblisieren (Verlust von 5,3 Prozentpunkten) wie umgekehrt die CDU (Rückgang 4,4 Prozentpunkten) in Sachsen, weil hier Manfred Stolpe und dort Kurt Biedenkopf nicht mehr zur Wahl standen.

Im Osten Deutschlands hat sich also binnen weniger Monate jedenfalls außerhalb von Union und SPD — wesentlich mehr abgespielt als im Westen im Laufe mehrerer Jahre. Da die größten Bewegungen lagerintern blieben, änderte sich an den politischen Kräfteverhältnissen dadurch wenig. Die politischen Systeme wurden dabei einander formal ähnlicher. Es gibt aber im Osten andere Themen, andere Sorgen, andere Politikstile. Das Parteiensystem ist dort von anderen Regeln und Einflüssen geprägt. infas/dpa

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