Die Gesellschaft und ihr Fett: "Bildungsbürgerliches Leitbild"
Die aktuellen Aufklärungsprogramme zur gesunden Ernährung passen für die Mittelschichten, meint der Sozialanthropologe Jörg Niewöhner. Aber was ist mit den anderen?
taz: Herr Niewöhner, mit nationalen Präventionsprogrammen und einer breiten Wellnessindustrie will man in Deutschland das Übergewicht bekämpfen. Gleichzeitig aber werden wir angeblich immer dicker. Was läuft da falsch?
Jörg Niewöhner: Da muss man trennen. Einerseits gibt es den medizinischen Hype, die Medikalisierung der nur etwas Übergewichtigen, und andererseits aber die gesundheitlichen Probleme jener, die mit ihrem Übergewicht chronisch krank und behandlungsbedürftig werden.
In unser Wahrnehmung wird Übergewicht immer als Problem der Unterschicht behandelt.
Der Body Mass Index nimmt mit sinkendem sozioökonomischen Status zu. Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto schlechter die Gesundheit. Warum das aber so ist, das ist die spannende Frage. Das scheint ja manchen dann offensichtlich, dann heißt es, die Angehörigen der sogenannten Unterschicht essen zu viel Burger, was aber gar nicht erwiesen ist, zumal Fastfood durchaus Geld kostet. Man muss vorsichtig sein mit einfachen Erklärungsansätzen. In den sogenannten Unterschichten gibt es hochgradig ausdifferenzierte Lebensstile, über die wir leider zu wenig wissen.
In Präventionsprogrammen versucht man, die Leute über vernünftige Essgewohnheiten aufzuklären. Bringt das was?
In unserem Forschungsprogramm des "Präventiven Selbst" stellen wir fest, dass das Leitbild, das hinter vielen Präventionsprogrammen steht, eins ist von einer Person, die eine bestimmte Fähigkeit hat, sich selbst zu beobachten, die sich disziplinieren kann, die finanzielle und intellektuelle Ressourcen hat. Das ist ein bildungsbürgerliches Konzept, ein Mittelschichtsphänomen. Diese Ressourcen, dieses Bild trifft aber für viele Menschen außerhalb dieses Mittelschichtsegments gar nicht zu. Man macht sich keine Vorstellung, dass viele Leute in einem anderen Milieu, einem anderen Setting leben. Da sieht der Alltag so anders aus, dass Gesundheit gar nicht die Rolle spielen kann. Es gibt einen Mismatch zwischen dem Wunsch, diese Leute zu disziplinieren und dem mangelnden Wissen darüber, was da zählt.
Nach amerikanischen Studien empfinden sich Menschen, deren Bezugspersonen selbst übergewichtig sind, nicht als dick. Das eigene Selbstwertgefühl nicht an irgendeiner Schlankheitsnorm zu messen, kann offenbar auch ein Schutz sein.
Diese Milieus haben sicher etwas Schützendes. Da aber in den Medien andere Bilder von Schlanksein verbreitet werden, kann man sich nicht vollkommen abschirmen.
INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH
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