Die Gen Z im Osten : Meine Oma, Honecker und Ich
Was ist nur mit meiner Oma los? Schwärmt sie etwa für Margot Honecker? taz-Futurzwei-Kolumnist Aron Boks auf den Spuren der DDR in seiner Familie.
taz FUTURZWEI | Margot Honecker schaut mich nicht an. Auf dem Cover des Gesprächsbands, den ich von ihr lese, kehrt sie mir und allen fragenden Menschen den Rücken zu.
In meinem Zimmer lese ich in dem Buch, was die ehemalige Volksbildungsministerin, die ab 1958 bis 1989 erst mit-, dann hauptverantwortlich für die Erziehung der Schülerinnen und Schüler der DDR war, über die Zeit erzählt. Unter anderem über die Schulzeit meiner Oma.
Ich fand das spannend, weil ich 1997 im Osten geboren wurde, die DDR also nicht miterlebt habe, mich dafür aber immer mehr interessiere.
Aber jetzt weiß ich nicht, worauf ich zuerst wütend sein soll – auf Margot Honecker, die in diesem Buch zwar ganz lieb von „frohen Kindernaturen“ und Chancengleichheit spricht, aber gleichzeitig für Zwangsadoption, sozialistische Wehrerziehung und den knastähnlichen Jugendwerkhof Torgau verantwortlich war, einer Umschulungseinrichtung für „schwererziehbare“ Kinder – oder wütend auf den Journalisten, der für diesen Band zu ihr ins Exil nach Chile geflogen ist und sie über 40 Stunden in so einem „wir“ und „uns“-Tonfall interviewt, als hätten die beiden eine fucking Skatmannschaft zusammen geführt.
Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.
Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.
Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.
Einschulung mit Honecker
Vielleicht bin ich aber auch sauer auf mich, weil ich dem Typen dann auch wieder nicht all zu böse sein kann. Er ist so alt ist wie meine Oma und die beiden wurden genau dann eingeschult,als Margot Honecker anfing, ihr Aufwachsen mitzugestalten. Vielleicht ist er deswegen befangen beim Fragen, denke ich und lese die Rückseite des Buches: „Was unter ihrer Federführung passierte, geschah mit Verstand und Weitsicht. Ihre Arbeit setzte Maßstäbe für eine erfolgreiche Erziehung.“
Meine Oma ruft mich an. Ich habe ihr ein Foto von dem Buch geschickt, und sie ist neugierig, was drin steht.
„Ich finde es gibt sympathischere Menschen“, sage ich vorsichtig, während ich weiter auf Margot Honeckers Rücken gucke.
„Mag sein“, sagt meine Oma etwas bitter. „Ich finde aber, dass das Bildungssystem früher gar nicht so schlecht war. Dass alle Kinder zusammen in die Schule gegangen sind, ist doch toll, und die Finnen übernehmen das ja jetzt auch – wusstest du das?“
Verklärt Oma die DDR?
Was ist denn plötzlich mit meiner Oma los?, denke ich nach dem Telefonat. Ich kenne diese historischen Erzählmixe aus Vergangenheit und Gegenwart, die sich als Mythen im Osten halten. Wenn ich mich mit Älteren dort über die DDR spreche, geht es so oft erst ein Stück voran im Gespräch, bis irgendwer dann ungefragt darüber sinniert, dass es doch früher auch einfach mehr Zusammenhalt statt Ellbogengesellschaft gegeben habe, dass alle Arbeit gehabt hätten und die Frauen viel gleichberechtigter gewesen sein.
Außerdem gibt es eine große Verklärung des Bildungssystems. Und ich glaube nicht, dass die Schüler:innen in Finnland Fahnenappelle, sozialistische Wehrerziehung und Staatsbürgerkunde im Lehrplan haben.
Später lese ich in einem Blog über Schulpolitik, dass es nirgendwo einen handfesten Beleg dazu gibt, dass Finnland das Bildungssystem der DDR übernommen hätte, sich dieser Mythos aber durch leichte Ähnlichkeiten aufrecht erhält.
Ich klappe den Laptop zu und rufe meine Oma an.
Ost – West – GenZ
Mir geht das alles auf die Nerven. Je älter ich und die Deutsche Einheit werden, desto mehr spüre ich aber fernab meiner Heimat, dass es Unterschiede im Aufwachsen zwischen mir und meinen westdeutsch sozialisierten Freunden gibt. Und dass ich mit diesem Eindruck nicht allein bin: Laut einer Studie im neuen Buch des Soziologen Steffen Mau finden 65 Prozent der jungen Ostdeutschen, dass es spürbare Unterschiede gibt, während das im Westen nur 32 Prozent denken.
Dort ist der Trend auch rückläufig, im Osten nimmt das Unterschiedsbewusstsein zu. Im Buch wird auch beschrieben, dass der Blick der älteren Ostler viel öfter in den Westen geht, als in die eigene Vergangenheit. Und auch ich merke in Gesprächen mit Zeitzeugen, dass es vielen deutlich schwerer fällt, sich mit seinem Leben in der Diktatur zu beschäftigen, als damit, was mit der Wiedervereinigung nicht funktioniert hat und dass der Westen einen nicht so richtig verstehen will.
„Aber das ist doch bescheuert“, sagt meine Oma.
„Ich dachte, du findest Margot Honecker gar nicht so schlecht“, entgegne ich bockig.
„Nein!“, sagt sie erschrocken. „Die Frau war furchtbar, aber hatte immer ein Talent zu reden und Wahrheiten zu verdrehen!“
Glückliche Kindheit in der Diktatur
Dann spreche ich mit meiner Oma über ihre Schulzeit, die glücklichen Pioniernachmittage, die FDJ, ihren zuerst leidenschaftlichen Eintritt in „die Partei“ und die spätere Resignation, besonders nachdem sie noch zu DDR-Zeiten das erste Mal in den Westen reisen durfte.
Mir fällt dabei auf, dass alle meine Vorfahren immer in den Westen geschaut haben, während ich die ganze Zeit versuche, in die DDR zu gucken. Für meine Eltern und meine Oma ist diese Zeit abgeschlossen, für mich liegen dort vielleicht Fußnoten, die meine bisherige Geschichte erklärbarer machen.
Während ich danach suche, erfahre ich von anderen Nachwendekindern aus dem Osten ähnliche Irritation über festgefahrene Narrative der Älteren und gleichzeitige Wut darüber, wie verletzend und unvorsichtig die Wiedervereinigung verlaufen ist. Wie wenig Therapie und wie viele schnelle Umschulungsmaßnahmen es gab.
Ein neues 68' im Osten?
Oft wird jetzt vor den anstehenden Landtagswahlen und während immer mehr Nachwendekind-Schriftsteller:innen über den Osten schreiben, ein mögliches „neues '68“ thematisiert. Laut Steffen Mau scheinen gerade diese Jüngeren zu schonungsvoll mit den Älteren zu sein, wenn es um deren frühere sozialistische Treuebereitschaft geht. Gäbe es diesen weichen Blick nicht, würden manche Narrative, die die Verklärung der DDR und letztlich die heutige Demokratieskepsis im Osten befeuern, einfach weniger Nährboden haben.
„Ich frage mich nur, wie man mit Menschen, die ihre ganze Schulbildung und sicher vor allem schöne Momente dadurch erfahren haben, kritisch über die Diktatur spricht, ohne dass die sich auf den Schlips getreten fühlen“, sage ich zu meiner Oma.
„Das geht ja auch nicht“, antwortet sie prompt. „Wenn man gefragt wird, dann muss man darüber sprechen, schließlich war die Zeit, wie sie war!“ Sie meint damit die Propaganda, die Massenorganisationen, das offizielle und inoffizielle Reden.
Ich weiß nur noch nicht wie man all das genau besprechen kann und laufe im Kreis durch dieses Land, das es nicht mehr gibt, aber immer noch die Gegenwart vieler im Osten und mit Blick auf die kommenden Wahlen auch die der ganzen Republik bestimmt.
Dabei kann es sehr gut sein, dass die Leute, die ich nach dem Weg frage, selbst keine Ahnung haben, wo es lang geht. Dass sie selber irren.
„Aber ich finde es spannend mit dir darüber zu reden und bring mir das Buch mal mit, ja?“, sagt meine Oma. „Küsschen!“
„Küsschen Oma!“, sage ich.
Gut, ein neues '68 mit Vergangenheitskonfrontation habe ich noch nicht hinbekommen.
Aber vielleicht ist das ja immerhin ein Anfang.
■ Stimme meiner Generation – die Kolumne: Was treibt die GenZ um, im Großen wie im Kleinen? Ruth Fuentes und Aron Boks schreiben an dieser Stelle regelmäßig für unser Magazin taz FUTURZWEI über das Leben und die Herausforderungen einer besonderen Generation in sehr besonderen Zeiten.