Die Gemeinschaftsschule auf Fehmarn: Die Magnetschule
Lange galt die Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein als ein Hassprojekt. Nun lassen sich grüne Landtagsabgeordnete von der lokalen CDU die Schule von morgen erklären.
HANDEWITT UND VON FEHMARN taz Michael will nicht mehr neben Leon sitzen, der stört im Unterricht immer. Aber Leon will nicht nach hinten in die Klasse, "da kann ich mich nicht so gut konzentrieren". Soll also Michael nach hinten? Und Leon allein vorn bleiben? Der Klassenrat in der 5 b, erörtert die Frage - und gibt sie an Klaus-Peter Andresen weiter. Der Klassenlehrer soll einen Kompromiss finden. Dann schlagen ein paar Mädchen vor, dass man zusammen in der Schule übernachten könnte. Begeisterung - aber wie? Auf den Tischen, in der Turnhalle?
Selten kann man in einer Viertelstunde so viel über eine Schule erfahren wie hier, im Klassenrat in der fünften Klasse der Gemeinschaftsschule in Handewitt. Die Elf- und Zwölfjährigen besprechen ihre Konflikte. Sie haben ihre Regeln, wie sie mit Unterschiedlichkeit umgehen. Und sie mögen ihre Schule, sonst kämen sie kaum auf die Idee, dort zu übernachten. Die Gemeinschaftsschule ist eine neue Schulart in Schleswig-Holstein, alle Kinder lernen gemeinsam, alle Abschlüsse sind möglich.
Zu zweit in der Klasse
Handewitt, 12.000 Einwohner, kurz vor der dänischen Grenze, ist bisher durch seine Handballmannschaft aufgefallen. Jetzt wird die Gemeinde wegen ihrer Gemeinschaftsschule zum Pilgerort für Schulpolitiker. "Hier herrscht Aufbruchsstimmung", freut sich die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag Nordrhein-Westfalens. Siegrid Beer und ihre KollegInnen sind beeindruckt: Statt der Zensurenzeugnisse gibt es Lernentwicklungsberichte, es finden sich Lernverträge, ein Zirkusprojekt und ein funktionierender Ganztagsbereich.
Klaus-Peter Andresen, ein altgedienter Hauptschullehrer, steht in der Gemeinschaftsschule nicht mehr allein in der Klasse. Er hat eine Ko-Klassenlehrerin, Susanne Mahrt, mit der er im Team unterrichtet. Sie ist Realschullehrerin - und freiwillig gekommen. Da die ehemalige Hauptschule alle Schulabschlüsse anbieten soll, braucht sie Realschullehrer, später auch Gymnasiallehrer. Damit sich mehr ändert als nur das Türschild, müssen die Lehrer lernen, mit unterschiedlichen Schülern umzugehen. Laut Andresen hat sich das Selbstbild der Schüler verändert. "Ich bin ja nur Hauptschüler", das sagen sie nicht mehr, berichtet er. "Wir sind alle an einer Schule und wollen alle einen möglichst hochwertigen Abschluss."
Nicht jede Gemeinschaftsschule muss eine gymnasiale Oberstufe haben - Schüler, die zum Abitur wollen, können ja auf eine andere Schule wechseln. So hieß es in Schleswig-Holstein, wo es einen heftigen Streit zwischen SPD und CDU gab. Die CDU wollte unbedingt verhindern, dass die Axt ans heilige deutsche Gymnasium gelegt wird. Und erzwang in der großen Koalition, dass die so genannte Regionalschule als Alternative zur verhassten Gemeinschaftsschule ins Schulgesetz geschrieben wurde. In der Regionalschule werden lediglich Haupt- und Realschüler gemeinsam unterrichtet, und auch das nur in der fünften und sechsten Klasse. Die Gemeinden sollten selbst entscheiden, welche Schule sie wollen.
Mit dieser Idee fing sich die CDU aber eine Schlappe ein. Obwohl die Gemeinden zu 90 Prozent CDU-geführt sind haben bereit 63 der Gemeinden die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule beantragt, während für das CDU-Modell erst 39 Gemeinden votierten.
Auch in Handewitt ist ein CDU-Mann die treibende Kraft für die Gemeinschaftsschule. "Nach 200 Jahren gegliedertem Schulsystem müssen wir endlich eingestehen, dass es zu viele Verlierer produziert", sagt Amtsvorsteher Arthur Christiansen. Ja, er hat damit gerechnet, dass er mit dieser Auffassung Schwierigkeiten bei der Landes-CDU bekommen würde. Aber seine Gemeinde sollte eine Schule haben, die Eltern freiwillig und gern für ihre Kinder wählen.
Inzwischen entsteht um Handewitt herum ein Netz aus Gemeinschaftsschulen. Fängt eine Gemeinde an, so ziehen die anderen nach. Denn es geht um bares Geld: Für jeden auspendelnden Schüler muss man einen Ausgleich an die aufnehmende Gemeinde zahlen. Da lohnt es sich, die Kinder am Ort zu halten.
Auch auf Fehmarn gibt es eine Gemeinschaftsschule. Die Inselschule, das einstige Inselgymnasium, ist die Einzige bislang, die wirklich aus allen drei Schulformen hervorgegangen ist. Dort hatten sich Eltern, Lehrer und Gemeindevertreter Gedanken gemacht, wie sie einen gymnasialen Bildungsgang für die 12.000 Insulaner halten konnten, bevor die große Politik in Kiel darauf kam. Die Schülerzahlen auf Fehmarn gingen zurück. "Natürlich", heißt es dann, "der demografische Faktor!". Doch das war es nicht allein.
Anja Neuwohner, Ärztin und Mutter eines Sohnes auf dem Gymnasium und einer Tochter, die in diesem Jahr auf die neue Gemeinschaftsschule geht, hatte sich ihre Schule angesehen: Warum machen auf Fehmarn weniger Kinder Abitur als anderswo? Sind die Fehmarner dümmer? Oder wird hier mehr gesiebt? Das war jedenfalls nicht die Schule, die sie sich für ihre Kinder wünschte. So entstand eine Initiative für eine Gemeinschaftsschule. Und eine ebenso aktive Initiative der Gymnasialverteidiger. Freundschaften zerbrachen, Arztpraxen wurden boykottiert.
Die Orts-CDU macht Schule
Auch die CDU-Mehrheit im Gemeinderat kapierte: Entweder Gemeinschaftsschule - oder alle Kinder mit Gymnasialambitionen müssen den langen Weg nach Oldenburg fahren. Der Chef des Gymnasiums hätte nach dem Gesetz die Leitung der neuen Schule übernehmen können, wenn er gewollt hätte. Er ging lieber aufs Festland, mit ihm einige Lehrer. Die neue Schulleiterin Michaela Schmeiser und ihre Kollegen holten sich Ratgeber und Fortbilder, zum Beispiel aus der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden.
Der Kampf scheint gewonnen. Sechs Kinder aus dem fünften Jahrgang müssen sich jeden Tag die 35 Kilometer nach Oldenburg ins dortige Gymnasium auf den Weg machen, der Rest blieb hier. Dafür kommen jetzt sogar 15 Kinder vom Festland herüber nach Fehmarn - die Gemeinschaftsschule als Magnet.
Eine Schule für alle ist die Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein noch lange nicht. Vielmehr entsteht wieder ein dreigliedriges System aus Gymnasien, Gemeinschaftsschulen und Regionalschulen. So befürchtet es Karl-Martin Hentschel, der grüne Fraktionsvorsitzende im schleswig-holsteinischen Landtag - Grund für Opposition. Für Hentschel ist die Bewegung in der Schulpolitik nur ein Schritt auf dem Weg zur "einen Schule für alle". Das Gymnasium wird man nicht durch Zwang integrieren können. Aber man braucht zumindest faire Wettbewerbsbedingungen. Dazu gehören gleiche Arbeitszeiten für die Lehrer an allen Schulformen; keine Schulformempfehlungen von der Grundschule mehr. Und Gemeinschaftsschulen brauchen eine gymnasiale Oberstufe oder sie müssen mit Nachbarschulen Oberstufenzentren bilden.
Für die Besucher aus NRW ist Schleswig-Holstein eine Art Wunderland. Einen CDU-Bürgermeister, der aus den schulpolitischen Schützengräben heraus das Ende des gegliederten Schulsystems verkündet, danach sehnen sie sich. Oder wie Eltern sich engagieren, gestandene Hauptschullehrer ihren Beruf neu entdecken, GEW-Funktionäre nicht beim Mäkeln über die zu hohe Stundenbelastung stehen bleiben, kurz, wie engagierte Menschen aus einem nichtperfekten und halbherzigen Modell einen Aufbruch zaubern können.
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