Die Entdeckung von Amerika: Puppenstube und Gomorrha
Zwischen den Ferienorten Ocean City und Wildwood an der US-Atlantikküste liegen nur 60 Kilometer - und doch Welten: In der einen ist Alkohol verboten, in der anderen fließt er in Strömen.
Die Kinder, die im Pool des "Astronaut Motel" in Wildwood plantschen, werden von ihren Eltern nicht in regelmäßigen Abständen aus dem Wasser gerufen, um an einem Gläschen Wodka zu nippen. Auf der hölzernen Strandpromenade - dem Boardwalk - wälzen sich keine betrunkenen Teenager in wilden, entfesselten Orgien. Niemand zieht eine Waffe, um das Geld für die nächste Flasche Schnaps zu erbeuten. Nein, der Boardwalk ist so sauber und aufgeräumt, dass man beinahe ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man ihn mit schmutzigen Schuhen betritt. Große Schilder weisen darauf hin, was auf dem wenige Meter entfernten Sandstrand alles - gesetzlich! - verboten ist: Alkohol, natürlich. Und auch "obszöne Sprache". Einfacher ausgedrückt: Keine Kraftausdrücke, bitte.
Das alles ist ein bisschen enttäuschend. Sodom oder Gomorrha stellt man sich irgendwie anders vor. "Ich bin froh, dass Sie wenigstens bei Tageslicht nach Wildwood fahren wollen und nicht etwa abends", hatte Ron Ardenti gesagt, der freundliche Besitzer des italienischen Restaurants "Guiseppe" im Ferienort Ocean City: "Es ist dort sehr gefährlich." Tatsächlich?
In Wildwood blüht der Massentourismus. Billige Unterkünfte, tausende von Betten. Ein Motel reiht sich an das nächste. Riesige Wasserrutschen und ein großer Vergnügungspark mit Achterbahn und Kettenkarussell sollen die Besucher bei Laune halten. Beschaulich ist Wildwood nicht. Hier wird nichts versprochen, was über das hinausgeht, was offenkundig vorhanden ist: Meer, Sand, käufliche Attraktionen, geplantes und planbares Vergnügen.
Man muss wohl in Ocean City leben - und leben wollen -, um Wildwood für einen Sündenpfuhl zu halten. 60 Kilometer nördlich gelegen, nur zwei Autostunden von New York entfernt, scheint dieser Ort an der Küste von New Jersey vor allem eines zu sein: eine Garantie für Sauberkeit. Für äußere und für innere Sauberkeit.
Reizende Häuser, die an antike Puppenstuben erinnern, bieten Bett und Frühstück an. Charmante, neu gebaute Feriencottages scheinen der ideale Aufenthaltsort für glückliche Familien zu sein. Selbst die Motels sind niedlich. Vom "Travel Channel" ist Ocean City zum "besten Familienstrand in Amerika" gewählt worden. Die überregionale Tageszeitung USA Today hat den Ort als einen von 15 "unvergesslichen Ferienplätzen" ausgezeichnet. Auf dem Boardwalk sind keine Hunde erlaubt. Fliegende Händler dürfen hier keine Waren feilbieten, nicht einmal ein Eis oder heiße Würstchen. Sorgfältig gemalte, gelbe Linien begrenzen auf der Strandpromenade den Raum für Fußgänger und für Fahrradfahrer. Sie geben die Richtung an, in der diese sich jeweils bewegen sollen. Die wichtigste Regel aber lautet: Kein Ausschank und kein öffentlicher Konsum von Alkohol. Nirgendwo in der Stadt.
"Wir brauchen keinen Alkohol hier." Mary-Anne Berrado, die seit zwei Jahrzehnten gemeinsam mit ihrem Mann auf der Strandpromenade mehrere Schnellrestaurants betreibt, hat in dieser Hinsicht keinerlei Zweifel. "Alkohol würde die Atmosphäre der Stadt verändern. Alkohol ist der Ursprung aller Probleme von Jugendlichen." Die 56-Jährige steht mit ihrer Ansicht nicht alleine da.
"Wenn Alkohol legalisiert würde, dann würde die Stadt ihren Charme verlieren", behauptet Edward Dolceamore. Er betreibt seit zehn Jahren ein Motel in Ocean City. Biografien können ironische Wendungen nehmen: Im nahe gelegenen Atlantic City war Dolceamore einige Jahre für die Vergabe von Alkohollizenzen zuständig. Jetzt erklärt er, das Alkoholverbot in Ocean City sei der Grund dafür, dass Eltern kein Problem damit hätten, "ihre 14-jährigen Kinder alleine auf der Promenade laufen zu lassen". Glaubt Dolceamore wirklich, was er da sagt? Dass andernorts Teenager von verantwortungsbewussten Eltern keine paar hundert Meter von der Leine gelassen werden?
Projektion spielt eine große Rolle beim Versuch, sich die Welt zu ordnen. Auch bei der Reporterin. Eine "trockene" Stadt in den USA, gegründet von strenggläubigen Methodisten? Da reckt doch zweifellos religiöser Fundamentalismus sein hässliches Haupt hoch empor. Oder? Na ja.
Ron Ardenti, der seit über 20 Jahren sein italienisches Restaurant am Boardwalk betreibt, hat eine ganz sachliche Begründung dafür, warum er eine Initiative für öffentlichen Alkoholausschank nicht unterstützen würde: "Unsere Hochsaison dauert gerade mal neun Wochen. Ich finde es keine erfreuliche Vorstellung, dass hier jemand länger als eine Stunde genüsslich seine Flasche Wein trinkt, während draußen die Schlange immer länger und länger wird. Und dass ich mich dann mit einem Betrunkenen - oder halb Betrunkenen - darüber auseinander setzen muss, dass er allmählich seinen Tisch räumen sollte. Dann ist es mir lieber, wenn die Frage gar nicht erst auftaucht, wie lange jemand sitzen bleiben darf."
Nüchterner lassen sich Geschäftsinteressen kaum zusammenfassen. Virginia Berwick, die zusammen mit ihrem Bruder den ältesten Süßwarenladen der Stadt betreibt - gegründet 1898 -, verfügt über eine eindrucksvoll bestückte Hausbar. Sie empfiehlt Besuchern, die nicht auf Alkohol verzichten mögen, gerne ein gutes Restaurant jenseits der Brücke in der nächsten Kleinstadt. Dahin fahren die Einheimischen schließlich auch, wenn sie einen netten Abend verbringen wollen. Und dennoch ist Virgina Berwick eine eiserne Befürworterin des Alkoholverbots in Ocean City: "Das bewahrt die familiäre Atmosphäre hier."
Ocean City blickt auf eine lange Tradition als Urlaubsort zurück. "Früher war es eine große Sache, wenn man sich eine Woche am Strand mit der Familie leisten konnte." Seit Generationen bereits kämen die Kinder von einst als Erwachsene zurück und zeigten den Platz, mit dem sie so viele glückliche Erinnerungen verbinden, den eigenen Kindern.
Wenn die Welt überhaupt jemals heil ist, dann in der Kindheit. Wer die Sehnsucht nach der guten alten Zeit erfüllen will, muss alles lassen, wie es ist. Matt Burkholder kommt seit 25 Jahren nach Ocean City. Neun Jahre alt war er bei seinem ersten Besuch. Jetzt bringt der 34-Jährige Ehefrau und drei Töchter mit. "Nichts hat sich hier verändert", sagt er befriedigt. "Ich finde das toll." Sicher sei es hier, man müsse vor nichts Angst haben. "Es gibt keine Bars auf dem Boardwalk, also auch keine Betrunkenen, keine Unruhestifter. Wenn man das Alkoholverbot lockert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Atmosphäre ändert."
Derzeit erinnert die Atmosphäre in Ocean City an eine US-Familienserie im Kinderprogramm. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist fast doppelt so hoch wie in Wildwood. Dort lebt jede fünfte Familie unterhalb der Armutsgrenze - in Ocean City sind es gerade mal 6,8 Prozent. Hier ist die Welt so, wie sie sein soll.
Es ist übrigens eine ganz und gar weiße Welt. Warum kommen eigentlich keine Schwarzen nach Ocean City? Die Frage löst Unbehagen aus. "Es gibt viele Schwarze hier", behauptet Ron Ardenti. "Etwa ein Viertel meiner Angestellten sind schwarz." Ja, die Angestellten. Aber warum gibt es keine schwarzen Touristen? "Doch, die gibt es. Viele." Wo? "Na ja, jetzt sind sie grade nicht hier. Aber es gibt sie. Wirklich."
Frieden und Beschaulichkeit sind teure Güter, auch im wörtlichen Sinne. Man muss sie sich leisten können. Die meisten Motels in Ocean City verlangen selbst in der Nachsaison mindestens 150 Dollar für ein Zimmer. Wer eine Ferienwohnung kaufen will, kann leicht 700.000 Dollar loswerden. Aber es gibt viele Leute, die sich den Traum vom Glück im stillen Winkel gerne etwas kosten lassen.
Wahrscheinlich ist die Sehnsucht nach der guten alten Zeit gerade jetzt besonders groß. Wie sagte der ehemalige Gouverneur Mike Huckabee, der gerne Präsidentschaftskandidat der Republikaner werden möchte, vor einigen Tagen in einem Fernsehinterview? Früher seien die Amerikaner vom Rest der Welt bewundert worden. Heute würden sie gehasst. Das müsse wieder anders werden. Selige Vergangenheit. Alte, unnennbare Tage. Der 22-jährige Jake Hansen hat erst in diesem Jahr sein Lokal im Zentrum von Ocean City eröffnet, in dem er Kaffee und Snacks verkauft. Die erste Saison habe seine Erwartungen bei weitem übertroffen, erzählt er. Aber wenn das Alkoholverbot endlich gelockert werde, dann lasse sich noch viel mehr Geld verdienen: "Wir stagnieren. Es ist doch absurd, dass wir freiwillig das große Geschäft den Restaurants auf der anderen Seite der Brücke überlassen. Die Stadt hat einfach Angst vor jeder Veränderung. Ich denke, die Leute müssen wagen, einen Schritt hin zur Realität zu tun."
Die allermeisten Geschäftsleute in dieser Stadt können über solche Sätze nur müde lächeln. Sie haben die Realität begriffen. Sie wissen, welche Träume sie zu verkaufen haben. Und sie wissen, wie begehrt die Erfüllung dieser Träume ist.
Die Entdeckung von Amerika: Bettina Gaus bereist die USA und wird darüber in tazzwei monatlich schreiben
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!