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Archiv-Artikel

Die Diktatur des Relativismus

Die Freiheit vom Bekenntniszwang ist ein großer Fortschritt. Leider wird er unterschätztDAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Der Dezemberist ein FDP-feindlicher Monat. Er erinnert uns an die Begrenztheit des MenschenUnd dann rief Bütikofer dem Grünen-Parteitag zu: Und wie ökologisierst du deinen Lebensstil?

Es gibt Parteien, die müsste man wählen, kann es aber nicht. Die FDP zum Beispiel. Wer sich auf nichts verlassen kann als auf sich selbst, sollte unbedingt die FDP wählen. Die Verabredung ist: Jeder wählt die Partei, die die eigenen Interessen vertritt. Das Wählen, das war mir nie so bewusst, ist also per se ein egoistischer Akt. Und die Grundaussage der FDP ist ja nicht einmal schlecht: Jeder ist ein potenzieller Selbstständiger. Das heißt, groß vom Menschen denken.

Der Berliner Finanzsenator macht das auch gerade. „Ihr alle seid potenzielle Selbstständige!“, ruft er 10.000 Berliner Beamten zu. Sinngemäß. Er hat nämlich durch eine Verwaltungseffizienz-Vergleichsstudie herausgefunden, dass die 10.000 höchstwahrscheinlich überflüssig sind. Natürlich hatte der Finanzsenator starke Gründe, so eine Studie erstellen zu lassen. Das ist ganz anders als bei der großen Rom- Kondom-Studie. Gemäß des Wunsches von Papst Benedikt haben wir den Gebrauch von Kondomen sorgfältig untersucht, hatte Kardinal Javier Lozano Baragàn erklärt. Ja, wie – sorgfältig? Das ist interessant. 200 Seiten nur über Kondome haben die Kardinäle geschrieben. Die Verwaltungseffizienz-Vergleichsstudie war bestimmt kürzer. Und nun muss der Papst – Adventslektüre! – die zweihundert Seiten lesen. Bis Weihnachten könnte er fertig sein.

Was ich sagen will: es ist nicht einfach, die Partei seines Interesses zu wählen. Man kann den FDP-Vorbehalt auch gastro-logisch oder christo-logisch formulieren. Schon ein Zustand akuter Übelkeit genügt, um zu wissen, dass die absolute Selbstständigkeit des Menschen der humane Ausnahmezustand ist. Die FDP kann eben die Geschöpflichkeit des Menschen nicht denken. Sie nimmt den Menschen sicut deus, gottgleich.

Nun wäre das alles halb so schlimm, wenn es nicht Parteien gäbe, die man so gern wählen möchte und es doch nicht kann. Jedenfalls nicht nach diesem Wochenende, nicht nach diesem Grünen-Parteitag. Dabei fand ich die Grünen schon gut, da gab es die DDR noch. Eine Basisinitiative, von niemandem bestellt, wird zur starken politischen Kraft. Das war großartig. Außerdem wissen die Grünen wie der Papst, was die FDP nicht weiß: dass die absolute Autonomie des Menschen eine Illusion ist. Die Erde ist das, was wir nicht gemacht haben. Das Unverfügbare. Das, was vor uns war und nach uns sein wird. Die Traditionsbewussten haben, besonders in diesem Monat, noch ein anderes Wort dafür: Gott. Und wie dunkel es draußen ist. Ist das die große Dunkelheit Gottes? Alles, was wir tun können, ist, kleine Lichtlein anzuzünden. Das macht bescheiden. Jawohl, der Dezember ist ein entschieden FDP-feindlicher Monat.

Bloß wollen wir uns das alles wirklich von Claudia Roth erklären lassen? Es gibt Menschen, aus deren Munde klingen selbst die größten Dinge klein. Die Grünen haben gesagt, dass sie als politisches Nah-Ziel ein Verbot der Stand-by-Schaltungen erreichen, den Billigfliegern den Garaus machen und nachschauen wollen, was sich für das Tempo-130-Limit auf Autobahnen tun lässt. Und dann rief Bütikofer dem Parteitag zu: Und wie ökologisierst du deinen Lebensstil?

Jeder Bürger dieses Landes, glaubt Bütikofer, sei verpflichtet, sich das zu fragen. Ich habe noch am selben Abend nachgeguckt, ob die Stand-by-Schaltung meines Fernsehers an war. Sie war noch an, Gott sei dank. Und über meine neuen Bio-Maisstärke-Mülltüten, kompostierbar nach DIN EN 13432, hitzebständig bis 35 Grad, habe ich mich auch nicht mehr gefreut.

Es ist so schwer, gute Bio-Mülltüten zu bekommen. Zuletzt hatten wir die aus festem, fast schon pappeartigem Papier. Die waren so stabil, dass man sie auch ohne Eimer benutzen konnte. Nur durfte man den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen, sie in die Bio-Mülltonne zu werfen. Das begriff ich sofort, als ich das erste Mal die Tüte ohne Boden in der Hand hielt und der sich bereits in Gärung befindliche Inhalt sich lose und latent breiartig auf dem Küchenboden verteilte.

Ich verstand sofort, dass es sich hier um eine Erziehungsmaßnahme handelte. Klaglos packte ich das Matsch-Bio-Gut in eine dicke, nach jeder Norm garantiert unkompostierbare Plastiktüte, hitzebeständig mindestens bis sechzig Grad. Später tat mir das mit der Plastiktüte dann leid und ich verpasste – im Unterschied zu meinen Mit-Wohnenden – nie mehr den richtigen Zeitpunkt der Entsorgung. Und nun endlich die kompostierbare Maisstärke-Biotüte!

Ich habe es auch nie geduldet, wenn das eigene Kind die Mutter einer Mitschülerin „Ökotrulle“ nannte. „Das ist so eine Öko-Trulle, weißt du!“ Ich habe dann ein kurzes Referat über die Geschichte der Grünen gehalten und erklärt, wie die Flüsse in der DDR aussahen, mit weißen Chemie-Schaumkronen obendrauf, und dass ich noch heute jedes Mal an einen Irrtum glaube, wenn ich in Leipzig ankomme: Das kann nicht Leipzig sein, es riecht nicht nach Leipzig. Das ist historische Erfahrung, sehr CO2-haltig, und es tut schon weh zu sehen, wie schnell die nicht mehr zählt.

Aber vielleicht hat das Kind doch Recht. Die Öko-Trulle findet bestimmt nichts dabei, ihren Lebensstil zu ökologisieren. Überhaupt sind erstaunlich viele Menschen empfänglich für appellativen Moralismus. Ich nicht. Das muss die DDR-Vorschädigung sein. Wir dachten, dass auch der Bekenntniszwang verschwindet nach dem Ende der DDR. Hat er aber nicht gemacht.

Berlin erregt sich gerade über die designierte PDS-Staatssekretärin Almuth Nehring-Venus. Schöner Name. Sie hat bei der Eröffnung einer Stadtteil-Geschichts-Ausstellung die „Einseitigkeit“ der Ausstellungstexte kritisiert. Sie soll gesagt haben, dass es bei der (Zwangs-)Vereinigung von KPD und SPD 1946 auch Befürworter dieser Vereinigung gab und dass „die Sowjetunion am längsten“ ein einheitliches Deutschland angestrebt hat. Falsch ist das nicht. Im Gegenteil, es ist richtig. Und natürlich hatte beides auch Gründe. Man sollte diese Gründe kennen dürfen, schon weil für geschichtliches Wissen immer zutrifft: Das Wahre ist das Ganze! Ja, aber musste ausgerechnet eine PDS-Frau das sagen?, fragten Kommentatoren und verneinten. Sie haben Unrecht: In einem freien Land muss auch eine PDS-Frau das sagen dürfen, ohne unter Verdacht zu geraten.

Es liegt durchaus eine Gefahr darin, wenn wir, das Volk der Mülltrenner, unseren Lebensstil ökologisieren und dabei immer dümmer und immer lieber werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Mensch von Natur aus und in seinem tiefsten Seelengrunde zum Fundamentalismus neigt. Darum liegt die größte und doch unterschätzte Kulturleistung des Westens noch immer in der Möglichkeit für alle, nicht bekenntnishaft leben zu dürfen. Der Papst nennt das die „Diktatur des Relativismus“. Eine wunderbare Diktatur. Die einzig lebbare Diktatur, denn sie entspricht der Natur der Dinge. Die FDP, immerhin, weiß das. Und sogar Benedikt arbeitet jetzt mit an dieser Diktatur, indem er über den relativen, also durchaus dualen Charakter des Kondoms nachdenkt.