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Die Devise war: Deckel bleibt zu

Die Aufarbeitung der Vergangenheit braucht einen langen Atem. Ein vom Historiker Wolfram Wette herausgegebenes Buch über die NS-Geschichte des südbadischen Waldkirch musste sich gegen viele Widerstände durchsetzen – und zeigt nun, was für ein Potenzial lokale Geschichtsforschung haben kann.

Nazi zwischen Trachtenmädchen: Waldkirchs NS-Bürgermeister Max Kellmayer beim Erntedankfest. Foto: Stadtarchiv Waldkirch

Von Oliver Stenzel↓

Heile Welt? Das 22.000-Einwohner-Städtchen Waldkirch liegt ­idyllisch im Elztal im Südschwarzwald, nur wenige Kilometer von Freiburg entfernt. Seit seinem dritten Lebens­jahr lebte hier der 1888 in Schaffhausen geboren Karl Jäger. Der hochgewachsene Mann wurde von seinen Mitbürgern als feinsinnig, musikalisch begabt und charakter­fest beschrieben – und war einer der furchtbarsten Massenmörder des NS-Regimes. Schon vor dem Krieg hatte er rasch Karriere in der SS gemacht, vom September bis Dezember 1941 hatte er dann als Chef des Einsatzkommandos 3 die Ermordung von rund 138.000 Juden und anderen Verfolgten in Litauen geleitet. Akribisch dokumentiert hatte er dies im so genannten „Jäger-Bericht“, heute ein Schlüssel-Dokument der Holocaust-Forschung. Erst 1959 wurde er in Deutschland verhaftet, einem Gerichtsverfahren entzog er sich durch Suizid im Gefängnis Hohenasperg.

Durch die historische Forschung zur Figur Karl Jäger ist auch viel über die Menschen und Geschehnisse in seiner Heimat­stadt Waldkirch zwischen den Jahren 1933 bis 1945 bekannt geworden. Denn die Versuche nach dem Kriegs­ende, Jägers monströse Taten nicht ans Licht kommen zu lassen, führten bei vielen Waldkirchern zum Bedürfnis, die gesamte NS-Vergangenheit des Ortes zu erforschen. Und sie setzten einen bislang 30 Jahre dauernden Prozess in Gang, dessen vorläufiger Endpunkt der vom Historiker Wolfram Wette herausgegebene Sammelband „‚Hier war doch nichts!‘ Waldkirch im Nationalsozialismus“ ist.

Erinnerungskultur von unten

In den rund 50 Aufsätzen von 27 Autorinnen kommt auch Jäger vor, aber ebenso Bürgermeister Max Kellmayer, der neben ihm wichtigste Nazi im Ort, der mit seiner eloquenten und leutseligen Art seinen Teil dazu beitrug, dass der Nationalsozia­lismus in dem katholisch geprägten Ort bald reibungslos funktionierte – und noch 12 Jahre nach dem Krieg als Bürgermeisterkandidat über ein Drittel der Stimmen bekam. Wir lernen Hintergründe über die Waldkircher SS-Männer, Vertreter der Kirchen, ambivalente Lehrer, aber auch über Widerständige unterschiedlicher Couleur, vom Schriftsteller Max Barth über den Pfarrer Eduard Trabold bis zu den Kommunisten Fritz und Franz Pfeiffer, Joseph Ketterer, Josef Weiss und August Stöhr. Die Beiträge zeichnen auch nach, wie sich die nationalsozialistische Ideologie nach und nach in die Bürgerschaft einschlich, wie sich die Menschen in dem Regime einrichteten – und manche sich nicht mit ihm arrangieren wollten – und zuletzt auch, wie nach dem Krieg mit der Vergangenheit umgegangen wurde.

Bemerkenswert sind dabei nicht nur der Umfang, die wissenschaftliche Gründlichkeit und die ansprechende Aufmachung mit vielen Fotos, sondern auch, dass es sich hier um ein Gemeinschaftswerk einer größeren Gruppe handelt. Denn wenn sich, was recht selten geschieht, Kommunen überhaupt zur Erforschung ihrer NS-Vergangenheit entschließen, geschieht das meistens über einen Werkvertrag oder ein Stipendium an einen auswärtigen Histo­riker. Dass es diesmal anders lief, liegt daran, dass das Buch „das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses ist“, so Heraus­geber Wette.

„Das ist in dieser Form schon etwas Besonderes: Man gibt den Stoff nicht ab, delegiert ihn an einen Profi-Historiker, zahlt dem eine bestimmte Summe und ist das Problem dann los.“ Den Weg, den Waldkirch wählte, nennt Wette hingegen „Erinnerungskultur von unten“. Ein Zusammenschluss von Menschen aus der Gemeinde, die das Grundmotiv eine: Wir müssen uns mit dieser Zeit gründlich auseinandersetzen. Dass Wette, einer der renommiertesten Militärhistoriker der Republik, dabei als Herausgeber fungiert, hat einen einfachen Grund: Er lebt seit 50 Jahren in Waldkirch und war, zeitweise auch als SPD-Stadtrat, an den erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit beteiligt. Auch an der Aufdeckung von Jägers Taten.

„Das ist unanständig, was der Herr Wette macht“

Deren ganzer Umfang kam erst im Jahr 1989 ans Licht. So lange war es „dem Schweigekartell gelungen, dass darüber überhaupt nichts an die Öffentlichkeit kam“, konstatiert Wette. Ein Heimat­historiker, „der sich selbst nicht die Finger schmutzig machen wollte“, habe ihn damals auf Jäger hingewiesen. „‚Für mich endet die Geschichte im Jahr 1900‘, hatte der gesagt, ‚der Rest ist Gegenwart, und mit der befasse ich mich nicht‘“, erinnert sich Wette noch immer amüsiert. Er befasste sich damit – und stellte schon bald fest, dass die Ablehnung gegenüber seinen Forschungen scharf war: „Als ich meine ersten Verlautbarungen über Jäger an die Presse gegeben hatte, sagte eine Stadtratskollegin: ‚Das ist unanständig, was der Herr Wette macht!‘“

Die Ablehnung historischer Aufklärung sei in Waldkirch „mindestens so ausgeprägt“ gewesen wie in vergleichbaren Städten in der Bundesrepublik, vielleicht „ein bisschen stärker“. Von Jäger habe man zwar gewusst, dass er in Litauen mit Judenmorden zu tun hatte, „was genau, wusste man nicht. Aber dass er da keine Radieschen gepflanzt hat, das wusste man schon.“ Und dazu kam, dass – dank Jägers erfolgreicher Werbung – rund 200 Waldkircher Männer in der SS waren, was in diesem Umfang außergewöhnlich für eine kleine Stadt im süddeutschen Raum ist. Die meisten von ihnen kamen nach dem Krieg wieder nach Waldkirch zurück, lebten hier. Und gaben, so Wette, „die Devise aus: Der Deckel bleibt zu!“ So dauerte es Jahrzehnte, bis Wette und andere Waldkircher an diesem Bild kratzten, weil sie sich aufregten „über dieses ganze: ‚Wir wissen nichts!‘ oder ‚Hier war doch nichts!‘“ – was dann auch Titel des Buches wurde.

Doch neben Deckel-zu-Haltern mehrten sich in Waldkirch auch die Stimmen jener, denen Aufklärung wichtig war. Ebenfalls 1989 fanden in Waldkirch Kultur­wochen unter dem Motto „Waldkirch 1939 – davor und danach“ statt. Es war das erste Mal nach dem Krieg, dass sich der Gemeinderat überhaupt mit dem Thema befasste – wegen großem innerstädtischen Druck.

Wette forschte weiter, stellte 2011 endlich sein Buch über Jäger im Waldkircher Geschwister-Scholl-Gymnasium vor, „und noch während der Veranstaltung stand jemand auf und hat gesagt: ‚Wir müssen uns überlegen, wie wir künftig mit diesem Wissen umgehen.‘“ Das sei der Gründungsakt der so genannten Ideen­werk­statt „Waldkirch im Nationalsozialismus“ gewesen.

Historiker Wolfram Wette. Foto: Vera Wette

Deren Wirken hatte bislang drei wichtige Stationen: Als erstes brachte sie an den Gräbern von sieben kurz vor Kriegsende erschossenen Deserteuren Informationen zum historischen Kontext an. Als zweites engagierte sie sich für ein Mahnmal für die litauischen Opfer Jägers in Waldkirch, das im Januar 2017 feierlich enthüllt wurde (Kontext dokumentierte Wettes Rede zur Einweihung). Und nun, als Versuch, mehr Wissen über die NS-Geschichte in Waldkirch zusammenzutragen, also das Buchprojekt. Eine Arbeit, die einen langen Atem erforderte.

Die Schwierigkeiten bei den Recherchen waren beträchtlich. Die Quellenlage ist alles andere als gut, denn zwei Verwaltungslehrlinge hatten noch kurz nach dem Krieg im Auftrag der Verwaltungsspitze alle städtischen Akten vernichtet, die an den Nationalsozialismus erinnerten. Nicht nur über Jäger und die SS findet sich deshalb in Waldkirch „kein Blatt Papier“, so Wette. „Die haben gründlich die Spuren verwischt“. In anderen Archiven, der Zentralen Stelle der Landesjustiz­verwaltungen in Ludwigsburg und der zeitgenössischen Presse fand sich dennoch ausreichend Material.

Es gab Spielräume

Durch die Recherchen zum Buch konnte Einiges an Unbekanntem zu Tage gefördert werden, das auch den NS-Experten Wette erstaunte. Völlig neu etwa war die Erkenntnis, dass es 1933 auch in Waldkirch eine lokal organisierte Bücherverbrennung gab. „Auf völlig freiwilliger Basis, nicht von oben angeordnet, sondern auf Initiative der örtlichen Nazis, mit ähnlichen Reden wie in den Großstädten“, sagt Wette. Die regionale Presse diente hier als Quelle, auch dieses Ereignis wurde nach 1945 totgeschwiegen. Genau wie die bislang unbekannten Fälle von Euthanasie in Waldkirch, auf die man über Akten der Gedenkstätte Grafeneck gestoßen war.

Zwei Kapitel befassen sich mit den Lehrern der weiterführenden Schulen, bei denen sich ein interessantes Spektrum an Verhaltensweisen gezeigt habe: „Es waren keineswegs alle Nazis, aber auch keineswegs alles Zentrums-Anhänger, die im kirchlichen Widerstand waren“, so Wette. Sondern „es gab den strammen Nazi, den Mitläufer, den, der sich bedeckt gehalten hatte, der nie „Heil Hitler“ gesagt hat, und es gab auch ein paar, die ein bisschen Widerstand gewagt haben.“ Dazu gehörte etwa, dass an der Realschule noch 1938 der Tochter eines jüdischen Tierarztes der Abschluss ermöglicht wurde. Trotz disziplinarischer Maßnahmen, existenzgefährdend war das nonkonforme Verhalten von Lehrern in der Regel nicht. „Das bedeutet ja: Es gab Spielräume für Denken und Handeln“, sagt Wette. Und das sei „eine ganz wichtige Botschaft für die Menschen von heute“.

Interessantes förderten auch die Recherchen zu den christlichen Kirchen zu Tage. In Waldkirch dominierte der Katho­lizismus, bis 1933 politisch vertreten durch die Zentrums-Partei. Ein Milieu, das oft als schwer zugänglich für die Nazis beschrieben wird. Und doch hatte die Selbstgleichschaltung des politischen Katholizismus zwar etwas länger gedauert, war aber doch spätestens 1934 abgeschlossen. Eine extrem wichtige Rolle habe dabei der Freiburger Erzbischof Gröber gespielt, so Wette, „weil er mit seinen Hirtenbriefen die Botschaft an seine Gläubigen übermitteln ließ: Seid gehorsam der Obrigkeit.“

Eine Haltung, die auch in der kleinen evangelischen Gemeinde vorzuherrschen schien. Deren Pfarrer Eugen Gorneflo wandelte sich zwar vom überzeugten Nazi zum Kritiker der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, eine grundlegende ­Kritik des NS-Systems war damit aber nicht verbunden. An sich im Kontext des zur NS-Zeit Bekannten keine sonderlich neuartige Erkenntnis, während der Recherchen zum Buch verweigerte der damalige evangelische Pfarrer dem Autor der Ideen­werkstatt dennoch strikt, das Archiv der evangelischen Kirche Waldkirchs zu betreten. „Es war ein jahrelanger Streit, der diesen Menschen fast zur Verzweiflung gebracht hat“, sagt Wette, „die haben Ängste entwickelt, das war unglaublich.“ Der Autor musste sich erst an die Evangelische Landeskirche in Karlsruhe wenden, die ihm schriftlich gab, dass er selbstverständlich das Archiv einsehen dürfe.

Drei Jahre Recherchen stecken in dem Buchprojekt, alle Mitwirkenden arbeiteten dabei komplett ehrenamtlich. Lediglich für die Druckkosten gab es einen Zuschuss von 25.000 Euro von der Stadt. Das Projekt hat dabei wohl auch ein günstiges Zeitfenster erwischt. Seit 2014 ist im Stadtrat die bisherige Mehrheit von CDU und Freien Wählern von SPD und Die Offene Liste abgelöst – „manche sagen: Noch vor zehn Jahren hätten wir keinen Zuschuss von der Stadt bekommen“, so Wette. Er ist auch glücklich, dass das Projekt noch 2019 abgeschlossen wurde – sonst hätte die ­Corona-Krise einen Zuschuss in weite Ferne gerückt „und alles wäre umsonst gewesen“. Das konnte vermieden werden – und Anfang Juni wurde dem Projekt noch eine besondere Würdigung zuteil: Der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ gab bekannt, der Ideenwerkstatt Waldkirch für ihr jahrelanges Engage­ment den diesjährigen Rahel-Straus-Preis zu verleihen.

Von seinen Mitbürgern als feinsinnig beschrieben: Massenmörder Karl Jäger. Foto: gemeinfrei

Gegen die Legende der Erlebnisgeneration

Was bleibt? Wette sieht als Ergebnis nicht nur, dass die Stadt endlich eine dunkle Phase ihrer Geschichte aufgearbeitet hat, sich ihrer Vergangenheit stellt. Für ihn zeigt das Projekt auch, wie viel Gewinn die bislang viel zu wenig geschätzte lokalhistorische Forschung für die Erforschung der NS-Geschichte im Allgemeinen haben kann: „Die Legende der Erlebnisgenera­tion der Nazi-Zeit ist ja: Wir haben in einem totalitären Staat gelebt, da ­wurde ­alles von oben befohlen, wir konnten nicht ausscheren. Also ein erzwungener Gehorsam gegen eigene Überzeugungen. Und die Lokalgeschichte kann zeigen, dass es ganz darauf ankam, was für ein Typ von Nazi derjenige war, der im Ort vorne stand, ob es ein lockerer, leutseliger Typ war oder ein ganz strammer Nazi. Dass es also erhebliche Spielräume in den einzelnen Gemeinden gegeben hat, auf ­allen Feldern des politischen Geschehens.“ Und damit letztlich, „dass der NS-Staat doch nicht so durchorganisiert war, dass die totalitäre Diktatur in jede Ecke hineingereicht hätte“.

Ganz wichtig sei auch ein weiterer Aspekt, den lokalhistorische Studien nachvollziehbar machen könnten: „Der National­sozialismus kam nicht über Nacht wie eine Sturmflut, sondern er richtete sich über längere Zeit schleichend in der Gesellschaft ein.“

Trotz rund 500 Seiten, das Buch lässt immer noch viele Lücken, für künftige Generationen bleibt noch einiges zu tun. Die Ideenwerkstatt bestehe aber ohnehin weiter, und Wette hofft, dass ihre Erkenntnisse auch an den Schulen verbreitet werden, dass es genug Lehrer gibt, die ihren Schülern „eine humane Grundierung“ vermitteln. Und dass über die Beschäftigung mit der Vergangenheit vielen Leuten einleuchtet, dass man die AfD-Propaganda ernst nehmen muss. „Wir haben Globa­lisierungsängste, Flucht in den Nationalismus, Ausgrenzungsgedanken gegen Minderheiten, neuen Antisemitismus – es dampft gerade viel von dem alten Mist wieder hoch.“

„Hier war doch nichts!“ Waldkirch im Nationalsozialismus, herausgegeben von Wolfram Wette, Donat Verlag, 528 Seiten, 29,80 Euro.

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