■ Die Anderen: Die in Bern erscheinende Zeitung "Der Bund" und "The Times" (London) über die Aussichten eines Wahlsieges bzw. dem möglichen Ende der Kanzlerschaft von Helmut Kohl / "De Volkskrant" über die gesunkenen Arbeitslosenzahlen
„Das alte Schlachtroß geht zum Galopp über“, meint die in Bern erscheinende Zeitung „Der Bund“ angesichts der Aussichten eines Wahlssiegs von Helmut Kohl: Der einzige, der nach außen unerschütterlich an Helmut Kohls Wahlsieg glaubt, ist er selbst. Vor allem, wenn der Gegenwind besonders scharf weht, geht das „alte Schlachtroß“ – wie sich Kohl gerne nennen läßt – in Galopp über. So beim Bundeskongreß des DGB. Zeitweise schlugen Kohl Hohngelächter, Pfiffe und offene Ablehnung entgegen. Die Koalition hat vier Monate vor den Wahlen noch immer nicht Tritt gefaßt, stolpert von Panne zu Panne. Die überraschende Nominierung Gerhard Schröders Anfang März hat die Strategen der Union unvorbereitet erwischt. Insbesondere Kohl hatte offenbar fest mit Oskar Lafontaine als SPD-Kandidaten gerechnet. Auch 1994 hatte Helmut Kohl zunächst scheinbar hoffnungslos im Rückstand gelegen. Doch schlug die Stimmung früher um. Diesmal scheint dem Kanzler die Zeit davonzulaufen.
Auch die in London erscheinende Zeitung „The Times“ widmet sich dem möglichen Ende der Kanzlerschaft Helmut Kohls: Der bevorstehende EU-Gipfel in Cardiff dürfte Helmut Kohls letzter sein. Wenn die Meinungsumfrageinstitute recht haben, wird Kohl – der längste amtierende Kanzler seit Bismarck – bei den Wahlen im September geschlagen werden. Bis sein Schicksal und das seiner 16 Jahre alten Koalition geklärt ist, werden Deutschland und Europa praktisch wie gelähmt bleiben.
Aus der britischen Perspektive gesehen gibt Kanzlerkanditat Gerhard Schröder ein attraktives Bild ab. Nicht nur weil seine nordwestdeutschen Wurzeln eine kulturelle Verwandtschaft zu Großbritannien nahelegen, sondern auch wegen des offenen Pragmatismus, mit dem er die vor ihm liegenden gewaltigen Aufgaben erkannt hat.
Ein deutsches Wunder – dank oder trotz Kohl?, fragt sich „De Volkskrant“ (Amsterdam) angesichts der gesunkenen Zahl der Arbeitslosenzahlen in Deutschland: Interessant sind die Reaktionen auf die positive Entwicklung. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, bekommen Kohl und seine Mitte-rechts-Koalition die Schuld dafür. Jetzt, da es eine deutliche Verbesserung gibt, ist dies eine Art Naturwunder – trotz Kohl.
Alles weist darauf hin, daß die Arbeitslosigkeit noch dieses Jahr unter die Vier-Millionen-Grenze sinken wird und daß Kohl dafür das Seine getan hat. Bevor nun wieder wütende Leser auf dieses Lob für Kohl reagieren, muß hinzugefügt werden, daß Kohl – wie seine vielen Freunde in anderen europäischen Ländern – die Kunst entdeckt hat, wie man der Arbeitslosenstatistik künstlich ein akzeptableres Aussehen geben kann.
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