■ Die Anderen: Die neue deutsche Reichstagsnormalität beschreibt der "Guardian" / "Rzeczpospolita" hält den Umzug des Bundestags nach Berlin für eine Chance für Polen / Keine Angst vor Deutschen argumentieren der "Figaro" und "La Repubblica"
Die neue deutsche Reichstagsnormalität beschreibt der britische „Guardian“: Kanzler Schröder verband die Erneuerung des Gebäudes mit der Emanzipation Deutschlands, indem er auf die deutsche Beteiligung am Balkankrieg verwies. In einer Stadt, in der Geschichte aus allen Poren trieft, wo sich hinter jedem Spalt im Straßenpflaster ein Monster verbirgt, empfiehlt es sich nicht, die Gegenwart mit zuviel Vergangenheit zu belasten. Der deutsche Trick besteht darin, sich zu erinnern, zu reflektieren – und voranzuschreiten. Der Reichstag hat seinen Brand, seine Flaggen und Verpackungen gehabt. Jetzt ist es an der Zeit für Alltagsdebatten und das normale politische Tagesgeschäft. Die Deutschen werden hoffentlich mit Gefallen von Sir Normans Galerien auf ihre gewählten Repräsentanten bei der Arbeit herabschauen. Doch der wahre Triumph Deutschlands dabei wird sein, daß einige von ihnen die Vorgänge dort unten allzu undramatisch finden werden.
Die polnische „Rzeczpospolita“ hält den Umzug des Bundestags nach Berlin für eine Chance für Polen: Noch vor nicht allzu langer Zeit ängstigten sich die Nachbarländer Deutschlands vor Berlin, der früheren Hauptstadt von Preußen. Von dort kam und herrschte über Europa „der preußische Geist“, der sich in Militarismus und Feindschaft ausdrückte. Das Berlin von heute ist aber keine preußische Hauptstadt mehr. Den Deutschen ist es gelungen, die böse Vergangenheit zu überwinden. Das geopolitische Zentrum der Bundesrepublik verschiebt sich heute an die Grenzen Polens. Wir brauchen davor keine Angst zu haben, sondern müssen diese Chance nutzen.
Keine Angst vor den Deutschen hat der „Figaro“ aus Paris: Das Symbol war gewollt: Der Gründungsakt der „Berliner Republik“ war nicht die Installierung der Exekutive, sondern der Legislative. Die erste Etappe des Umzugs der Hauptstadt war nicht die Installierung der Macht, die anordnet, sondern der Macht, die entscheidet. Kurzum: Das neue Deutschland von Gerhard Schröder wünscht keinen anderen Bezugspunkt als die Demokratie. Frankreich täte daher Unrecht, sich wegen der schlichten Tatsache der Rückkehr nach Berlin in Phantastereien über ein gefährliches Deutschland zu begeben.
Ähnlich argumentiert „La Repubblica“ aus Rom: Von der Schwelle zur französischen Grenze ziehen Regierung und Parlament nach Osten. Während die Piloten der Luftwaffe jede Nacht zusammen mit den amerikanischen Ex-Feinden, Briten und Franzosen im Kampf gegen die nazistischen Krieger von Milošević ihr Leben riskieren, schließen die Deutschen mit der Nachkriegsgeschichte ab. Ist dieser Staat zu fürchten? Viel weniger, als dies die Erinnerung suggeriert.
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