■ Der verhüllte Reichstag – ein Berliner Bierzelt: Der Kaiser ist nackt
Noch steht die Verhüllung nicht, und so muß der Verhüller selbst seit Wochen dem öffentlichen Blick standhalten. Ganz Berlin dreht sich um die Figur Christo. Der Künstler als Kaiser, dessen artifizielles Kleid man so gerne begutachten würde, der aber bis zur Zeremonie noch gar nichts anhat – das fordert Spekulationen heraus.
Da war zunächst der Streit zwischen dem konzeptstrengen Land-art-Künstler und der Berliner Gastronomie: Dürfen Würstchenbuden und Schultheiß- Stände das Werk begleiten? Schließlich hatte man bereits beim Rummel um die Stadtschloßattrappe mit Ur-Berliner Sinn fürs Gemütliche den Vorhof unter den Linden mittels Zuckerwerk und Schnellbauten verschönt. Doch Christo ist alles Ornamentale fremd, auch das der Massen. Er forderte eine Bannmeile rund um den Reichstag, damit die Verhüllung nicht von wegelagernden Pickelhauben-Verkäufern verunstaltet werde. Auch ein eilig installierter Berlintourismus-Pavillon des Stern ließ sich mit dem Argument in die Flucht schlagen, daß kein Tand sein darf, wo Kunst gedeihen soll.
Das ist ein wenig seltsam, wenn man einmal nicht die Geschichte des Reichstags, aber die der Land-art zurückverfolgt: Schließlich sollte in den siebziger Jahren Kunst der Welt nichts hinzufügen, sondern auf den Verfall im Industriezeitalter hinweisen. Robert Smithson baute Schuttspiralen in Salzseen, Wolf Vostell goß Cadillacs in Beton und stellte sie auf Verkehrskreuzungen, und Christo verbarrikadierte als Reaktion auf den Mauerbau Straßenzüge mit rostigen Öltonnen. Da müßte sich doch ein bißchen wiedervereinigtes Lokalkolorit im Schatten des künstlerischen Coups einfangen lassen – schließlich möchte Christo durch die Verhüllungsaktionen ja immer auch den Geist, das Wesen des Ortes enthüllt wissen.
Statt dessen verkehrt sich mit dem Erfolg des Künstlers, der heute selbst Skizzen für ein paar tausend Dollar verkaufen kann, auch die Botschaft ins Gegenteil. Aus den stummen Zeichen der Land-art ist ein beredtes Verwaltungsspektakel geworden, bei dem sich ein stadtbekanntes Hotel in Christos Verhüllungsmaschine eingeklinkt hat. Es wird die Bonner Politprominenz, die der Aktion im letzten Jahr zugestimmt hat, bewirten – nicht in der Masse vor dem Brandenburger Tor, sondern in einer extra gefertigten VIP-Lounge in der Nähe des sowjetischen Ehrenmals unweit des Geschehens. Die Verpflegung im „exklusiven Doppelstockzelt“ kostet „DM 110,00 pro Gast ohne Getränke“ oder „DM 160,00 mit“. Christos Kunst beginnt ante portas, nur nicht als powere Poesie, sondern in einem Feinschmeckerlokal. Harald Fricke
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